Einer der Grundpfeiler jeder demokratischen Ordnung ist das sogenannte Freie Mandat. So wird´s gelehrt, allerorts. Ein Freies Mandat bedeutet die Unabhängigkeit des, in seiner Entscheidung letztendlich nur seinem Gewissen verpflichteten Abgeordneten. Zumindest theoretisch. Doch beim Freien Mandat besteht ein eklatanter Unterschied zwischen Theorie und Praxis bzw. zwischen der Position des politisch-medialen Marketings auf der einen und der Realität auf der anderen Seite.

Ein Widerspruch besteht bereits in der Idee der Vertretung eines (ideellen) Volksganzen, eines hypothetischen Volkswillens. Beides ist reine Fiktion. Denn weder gibt es ein, über die Summe seiner Bürger hinausgehendes Volksganzes noch einen Volkswillen, eine Art Kollektiv-Willen. Dementsprechend ist auch eine Repräsentation des Volksganzen durch den Abgeordneten etwas normativ Falsches und verschleiert nur die tatsächlichen Machtverhältnisse. Tatsächlich ist der Abgeordnete weder frei (nur dem eigenen Gewissen verpflichtet), noch vertritt er ein fiktives Volksganzes. Er vertritt vielmehr die Interessen jener Partei, Gruppierung, Lobby, etc., von der er politisch, strukturell bzw. wirtschaftlich abhängig ist oder die ihn de facto entsandt hat. Dabei geht es nicht nur um die direkte, persönliche Abhängigkeit des Abgeordneten von seiner Lobby/Partei, sondern auch um die strukturelle des freien Abgeordneten von einem extrem exekutiv-lastigen System . So wäre ein freier Abgeordneter etwa gar nicht in der Lage, ohne die Unterstützung bzw. die Vorarbeiten der Exekutive bzw. der Parteien, Lobbys und anderer, oft demokratisch nicht legitimierter Organisationen, selbst nur die Vorarbeiten für Gesetzesbeschlüsse bzw. andere Entscheidungen zu erarbeiten.

Dadurch wird der freie Abgeordnete zum ausführenden Organ, zum Handlanger von Machtstrukturen bzw. Machtmechanismen, die es gemäß der (demokratischen) Verfassung gar nicht geben dürfte:

Dabei sind zwei Bereiche von zentraler Bedeutung:

  • die informelle Verschiebung von Kompetenzen von der Legislative zur Exekutive. Gesetzte werden oft nicht von der Legislative entwickelt, sondern von den verschiedenen Ministerien (der Exekutive) und im Anschluss daran der eigentlich zuständigen Legislative nur noch zur Kenntnisnahme bzw. zur Inszenierung der Debatte und zur de facto symbolischen Verabschiedung vorgelegt.
  • Die Verlagerung der Entscheidungsfindung weg von der Legislative der freien Abgeordneten hin zu den diversen Lobbys, Parteigremien und Verbänden. Dass die Spitzen dieser Parteien und Lobbys teilweise deckungsgleich mit der Spitze der jeweils regierenden Exekutive sind, erleichtert diesen Prozess der Entscheidungsfindung natürlich ungemein.

Besonders deutlich, gerade auch angesichts der dafür gefundenen Sprachregelung, ist das „System“ in Österreich. Hier ist das Adjektiv „frei“ für einen Abgeordneten sowohl theoretisch als auch praktisch gültig, wenn auch mit jeweils konträrer Bedeutung. Theoretisch ist er in all seinen Entscheidungen frei. Praktisch ist er frei von jeder Entscheidungsfreiheit. Mit Humor betrachtet, ist diese Freiheit von Wahl-/Entscheidungsfreiheit - frei nach Kieerkegaard - bekanntlich die höchste Form der Freiheit.

In Österreich spricht man weniger vom freien Abgeordneten als vielmehr vom sogenannten „Klubzwang“. Dieser Klubzwang bedeutet, dass die tatsächlichen Entscheidungen meist nicht im Plenum des Parlaments fallen, sondern außerhalb. Sie fallen in den Vorzimmern der Macht und werden von den Spitzen der jeweiligen Interessengruppen (Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Lobbys etc.) gefällt. Die Abstimmung der freien Abgeordneten ist Großteils genauso ein Akt des politischen Marketings bzw. der Verschleierung, wie die hitzigen Debatten im Vorfeld der Entscheidung. Es ist dies insgesamt in Wahrheit eine Form der Inszenierung einer scheinbaren Willensbildung, die in Wahrheit in ganz anderen Gremien stattfindet.

Die einzige Entscheidung, die der freie Abgeordnete in Wahrheit treffen kann, ist die der Verweigerung des Klubzwanges. Einer derartigen Zuwiderhandlung folgt zwar ein unfreiwilliges Aus der politischen Karriere spätestens am Ende der Legislaturperiode, aber das Ausscheren aus dem Klubzwang, die Missachtung der Befehle der eigenen Partei oder Lobby ist de facto die einzig wirklich freie Entscheidung, die ein freier Abgeordneter treffen kann.

Sollte er diesen Schritt wagen, so wird der nun tatsächlich freie Abgeordnete allerdings mitunter zum Freiwild. Ab diesem Zeitpunkt ist er nicht nur von einem Gutteil der, für eine kompetente Entscheidungsfindung notwendigen Infrastruktur abgeschnitten, sondern wird auch als sogenannter „wilder Abgeordneter“ von den anderen "unfreien" Abgeordneten geschnitten und medial mitunter diffamiert. Auf diese, wie auch auf andere Widersprüche zwischen Verfassungstheorie und machtpolitischer Realität wurde zwar immer wieder hingewiesen , doch gleicht diese Kritik einem einsamen Rufer im Sturm des machtpolitischen oligarchischen (?) Konsenses.

Persönliche Verantwortung
Die persönliche Verantwortung, das eigene individuelle Engagement des Einzelnen ist das einzige Argument, das für den Abgeordneten bzw. für das freie Mandat angeführt werden kann. Der Abgeordnete, ob frei oder nicht, hat zumindest im Vorfeld der Entscheidung, in den diversen Ausschüssen und Gremien, die Möglichkeit wenigsten ansatzweise mitzubestimmen, seinen Standpunkt zu vertreten. Es ist - wie in allen anderen Bereichen des sozialen Lebens auch - immer wieder die jeweils persönliche Entscheidung, die einen, die den Unterschied macht. In diesen alltäglichen Entscheidungen verschwimmen die Grenzen des Politischen (Unterscheidung zwischen Freund und Feind) mit jenen des Moralischen (Gut und Böse), des Ästhetischen (Schön und Hässlich) und des ökonomisch Nützlichen oder Schädlichen. Es ist, wie könnte es auch anders sein, eine Frage der persönlichen Verantwortung und damit auch des persönlichen Mutes.

Aber vor eine derartige Entscheidung im Sinne einer persönlichen Verantwortung sehen sich die meisten Politiker anscheinend nicht gestellt. Hier dürfte das sprichwörtliche Hemd näher sein als der Rock und das System ist so aufgebaut, dass eine persönliche Verantwortung im Sinne des Tragens der Konsequenzen ohnehin weitgehend ausgeschlossen ist.

Denn egal worüber sie abstimmen, was sie tun oder unterlassen, im Regelfall müssen sie für ihr Tun und Lassen keine persönliche Verantwortung übernehmen und werden vom System geschützt und auch nach dem Ausscheiden aus der Politik, dem Verlust des Mandates, gut versorgt. Wie von Zauberhand bekommen Politiker im Anschluss an ihre Politikerkarriere oft hochbezahlte Berater- oder Vorstands/Versorgungsjobs, meist ohne für diese auch nur die geringste fachliche Eignung oder Erfahrung vorweisen zu können, böse Zungen behaupten, ganz wie in der Politik.

Ob "Entfesselungskünstler" Michael Spindelegger in Österreich, oder „GAZPROM“ Gerhard Schröder, die Versorgung während einer Auszeit oder nach Beendigung der politischen Laufbahn ist im Falle systemkonformen Verhaltens nicht mit jener einer gewöhnlichen Arbeitslosenversicherung vergleichbar, die ist für's gemeine Volk.

Besonders gut getroffen hat es anscheinend der ehemalige britische Premierminister Tony Blair. Das Verlagshaus Random House zahlte Tony Blair für seine Autobiographie ein Vorab(!)honorar in der Höhe von $ 9 Mio. Dagegen wirken die 2 Mio. Pfund Sterling Jahresgehalt als Berater für die amerikanische Investmentbank JP Morgan fast schon bescheiden, für einen Sozialisten wie Blair.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, war auch die aktuelle Wahl des österreichischen Bundespräsidenten erhellend. Es war - mit Ausnahme des „Kasperl“ Richard Lugner - eine rein systeminterne Wahl. Die ÖVP reaktivierte einen Polit-Pensionisten, die SPÖ schickte einen Minister in die gut bestallte Pension, die FPÖ ging mit ihrem 3. Nationalratspräsidenten ins Rennen und die ehemalige Höchstrichterin Griss kam ebenfalls aus dem Apparat. Van der Bellen schoss in diesem Zusammenhang aber wahrscheinlich den sprichwörtlichen Vogel ab. Er wechselte in seiner politischen Laufbahn von rot zu grün bzw. färbte die Grünen rot und bekam nach seinem Ausscheiden noch ein „Körberlgeld“ als Universitätsbeauftragter. Er trat als „unabhängiger“ Kandidat an (primär aus dem grünen Steuergeldtopf finanziert) und wurde im Finale mit Hilfe der beiden ehemaligen Großparteien SPÖ/ÖVP und dank der Unterstützung von einem Großteil des medialen Establishments, wenn auch denkbar knapp, zum Bundespräsidenten gewählt.