Der Vorrang des EU-Rechts über das nationale Recht ist absolut / unumschränkt. Er gilt für alle EU-Rechtsakte, unabhängig davon, ob sie aus dem Primärrecht oder dem abgeleiteten (Sekundär-)Recht hervorgegangen sind. Die Mitgliedsstaaten dürfen also keine nationale Rechtsvorschrift anwenden, die im Widerspruch zum EU-Recht steht. Der Gerichtshof befand, dass die Verfassungen der einzelnen Mitgliedstaaten ebenfalls dem Grundsatz des Vorrangs unterliegen. Somit hat das nationale Gericht dafür zu sorgen, dass Bestimmungen einer Verfassung, die im Widerspruch zum EU-Recht stehen nicht zur Anwendung kommen

Der Versuch, diesen Grundsatz in den europäischen Verträgen zu verankern, scheiterte, als der geplante Vertrag über eine Verfassung für Europa 2004 in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt wurde. Artikel 6 dieses Vertrages sah vor, dass:

Die Verfassung und das von den Organen der Union gesetzte Recht Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten habe.

Zweifellos war dieser Passus, der unwiderruflich die Souveränität der Mitgliedsstaaten auf die Institutionen der EU übertragen hätte, einer der Gründe für die ablehnende Haltung der französischen und niederländischen Bürger. Als der Lissabonner Vertrag aufgesetzt wurde, wurde jedenfalls davon abgesehen, diesen Artikel und diesen Grundsatz in den Vertrag aufzunehmen.

Nun ist es zwar richtig, dass im Artikel 291 des AEUV folgende Vereinbarung getroffen wurde:

(1) Die Mitgliedstaaten ergreifen alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht.

Somit sind die Nationalstaaten verpflichtet EU Richtlinien und Beschlüsse in nationalrechtliche Bestimmungen umzusetzen. Dies ist aber vom Wesen her etwas anderes als eine Behauptung, dass EU Recht unmittelbar in den Nationalstaaten wirkt und dass Nationalrecht aufgrund der Existenz von EU Recht für das Funktionieren des europäischen Rechtsstaates überflüssig und obsolet geworden ist. Artikel 288 macht klar, dass lediglich EU-Verordnungen unmittelbar und ohne Umsetzung in nationales Recht rechtsverbindlich wirken, für andere EU-Rechtsakte gilt dies nicht:

Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an.
Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. DE 30.3.2010 Amtsblatt der Europäischen Union C 83/171
Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.
Beschlüsse sind in allen ihren Teilen verbindlich. Sind sie an bestimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich.
Die Empfehlungen und Stellungnahmen sind nicht verbindlich.

Verbindliche EU-Rechtsakte ersetzen demnach nicht in jedem Fall Nationalrecht, sondern bedürfen je nach Typus einer Umsetzung in innerstaatliches Recht durch die Parlamente der Nationalstaaten. EU Recht und Nationalrecht koexistieren nebeneinander als gültige Rechtsordnungen, sie können sich sogar widersprechen. Der Grundsatz des Anwendungsvorranges von EU-Recht dient in erster Linie dazu, daraus entstehende Konflikte aus dem Weg zu räumen:

Steht eine nationale Rechtsvorschrift im Widerspruch zu einer EU-Rechtsvorschrift, so müssen die Behörden der Mitgliedstaaten die EU-Rechtsvorschrift anwenden. Das nationale Recht wird weder für ungültig erklärt noch außer Kraft gesetzt, es wird lediglich seine verbindliche Wirkung ausgesetzt. (ebenda Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union).

Der Anwendungsvorrang von EU Recht ist nicht Ausdruck politischer Souveränität

Wenn ein Transfer der politischen Souveränität von der nationalstaatlichen Ebene auf die europäische Ebene stattgefunden hätte , dann müsste Nationalrecht ihre Rechtswirksamkeit und ihre Existenzberechtigung aus den Bestimmungen des EU Rechts ableiten.

Wie Artikel 13(2) VEU klar macht, ist das Gegenteil der Fall.

2) Jedes Organ handelt nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind.

EU-Recht ist nicht auf der primärrechtlichen Ebene angesiedelt, sondern auf der sekundärrechtlichen abgeleiteten Rechtsebene. Die EU-Organe haben ihre rechtssetzenden Kompetenzen  von den Nationalstaaten erhalten.

Der Lissabonner Vertrag hat demnach keinen unwiderruflichen Transfer von Souveränität von den Nationalstaaten auf die Organe der Europäischen Union bewirkt. Ganz im Gegenteil, er hält lediglich den Wunsch der EU-Nationalstaaten fest, die Organe der EU in bestimmten Bereichen mit rechtssetzenden Kompetenzen auszustatten. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die EU als eine supranationale Verwaltung, deren Organe, genau wie die Verwaltungsbehörden auf nationaler Ebene, vom Souverän mit Aufgaben und rechtsetzenden Befugnissen ausgestattet worden sind. Politische Souveränität ist im 21. Jahrhundert daher immer noch auf der nationalstaatlicher Ebene angesiedelt und zwar beim Volk, so ungern manche Politiker dies hören mögen.

Der letztgültige Souveränitätstransfer erfolgte als Konsequenz des ersten Weltkrieges in den Jahren 1917/1918. Damals wurde die Souveränität vom Monarchen auf das Volk übertragen. Der Zweite Weltkrieg änderte nichts an dieser Verfassungsgrundlage.Sowohl im Präambel des deutschen Grundgesetzes und in Artikel 1 der österreichischen Bundesverfassung, beides Verfassungsdokumente, die eine neue staatliche Ordnung nach dem zweiten Weltkrieg begründeten, wird das Volk als Souverän und als die einzig legitime verfassungsgebende und letztgültige gesetzgebende Instanz festgehalten Die europäischen Verträge haben keinen neuen Souverän an der Stelle des Volkes benannt und installiert. Nicht wenige einflussreiche europäische Politiker des 21. Jahrhunderts betrachten den Begriff der Volkssouveränität mit Skepsis, manche tun sogar so, als ob diese schon überwunden wäre. Die Volkssouveränität bildet aber weiterhin die verfassungsrechtliche Grundlage unserer staatlichen Ordnung und unseres Zusammenlebens als Bürger.

Die politische Immunität der Verwaltung

Das Volk übt seine Souveränität entweder direkt (mittels Volksabstimmungen) oder indirekt (durch ihre gewählten Volksvertreter in den nationalen Parlamenten) aus. Auf nationalstaatlicher Ebene hat das souveräne Parlament immer das Recht und die Möglichkeit bei nicht zufriedenstellender Leistung der Verwaltung, die Befugnisse und schon gesetzte Rechtsakte der Verwaltung durch Veränderung des primarrechtlichen Gesetzestexts, aus dem diese Befugnisse abgeleitet werden, abzuändern.

Die besondere Tragödie (oder besser Perfidie?) der EU ist der paradoxe Umstand, dass die achtundzwanzig europäischen Souveräne zwar das Recht und die Macht hatten, mittels Lissabonner Vertrag die EU zu erfinden und die Organe der EU mit rechtssetzenden Befugnisse auszustatten, aber aufgrund des Anwendungsvorranges von EU Recht sich des Rechtes beraubt haben, diese Verwaltungsakten abzuändern oder zu korrifigieren und das Recht abgegben haben, die Befugnisse dieser Verwaltung im nach hinein neu definieren zu dürfen.

Man mag einwenden: Die Befugnisse der Organe der EU können durch eine Neuverhandlung des Lissabonner Vertrages abgeändert werden. Theoretisch ja. Allerdings bedarf eine solche Abänderung der Einstimmigkeit aller EU Mitgliedsstaaten. Eine solche Einstimmigkeit zu erreichen, wäre in der Praxis sehr schwer. Die politischen Eliten Europas möchten momentan zumindest eine Neuverhandlung der EU-Verträge vermeiden.

Die Nationalstaaten haben de facto keine Möglichkeit schon erlassene EU Vorschriften zu verändern oder rückgängig zu machen. Die Schritte, die die EU auf ihrem Weg zu einer immer engeren politischen Union setzt, sind in der Praxis unumkehrbar. Somit dehnt sich der Wirkungsbereich des EU Rechtsh langsam, aber stetig aus, und der Bereich, der noch in der subsidiären Kompetenz der Nationalstaaten fällt, schrumpft permanent. Denn die nationalen Parlamente, die einzigen unmittelbar beauftragten Vertreter der europäischen Souveräne, können weder EU-Rechtsakte initiieren, noch können sie Änderungsvorschläge für EU-Gesetzesentwürfe einbringen, noch EU Recht in ihrem Hoheitsgebiet für ungültig erklären.

Die Ohnmacht der demokratischen Volksvertretungen in der EU

Aus Artikel 288 VAEU wird ersichtlich, dass die nationalen Parlamente für die Rechtswirksamkeit von EU Verordnungen gänzlich irrelevant sind und dass die nationalen Parlamente einer vertraglichen Pflicht unterliegen, EU-Richtlinien zielkonform in nationales Recht zu verwandeln.

Artikel 288
Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an. Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. DE 30.3.2010 Amtsblatt der Europäischen Union C 83/171. Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.

Darüber hinaus besteht die Beteiligung nationaler Parlamente am legislativen Verfahren lediglich aus einem Recht, über bevorstehende Gesetzesvorhaben der EU informiert zu werden, und in der Möglichkeit, falls die Ablehnung eines bestimmten EU Vorhabens durch mehrere nationale Parlamente koordiniert werden kann, die EU Kommission um eine Überprüfung eines Gesetzesentwurfes zu bitten.

Die Befugnisse nationaler Parlamente sind in Artikel 12 VEU und in den Protokollen 1 und 2 des AEUV (also im Anhang!) des Lissabonner Vertrages geregelt:

Artikel 12 VEU
Die nationalen Parlamente tragen aktiv zur guten Arbeitsweise der Union bei, indem sie
a) von den Organen der Union unterrichtet werden und ihnen die Entwürfe von Gesetzgebungsakten der Union gemäß dem Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union zugeleitet werden;
b) dafür sorgen, dass der Grundsatz der Subsidiarität gemäß den in dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit vorgesehenen Verfahren beachtet wird;

PROTOKOLL (Nr. 2)
ÜBER DIE ANWENDUNG DER GRUNDSÄTZE DER SUBSIDIARITÄT UND DER VERHÄLTNISMÄSSIGKEIT
Article 7(3)
(3) Außerdem gilt im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens Folgendes: Erreicht die Anzahl begründeter Stellungnahmen, wonach der Vorschlag für einen Gesetzgebungsakt nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht, mindestens die einfache Mehrheit der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten nach Absatz 1 Unterabsatz 2 zugewiesenen Stimmen, so muss der Vorschlag überprüft werden. Nach Abschluss dieser Überprüfung kann die Kommission beschließen, an dem Vorschlag festzuhalten, ihn zu ändern oder ihn zurückzuziehen.
Beschließt die Kommission, an dem Vorschlag festzuhalten, so hat sie in einer begründeten Stellungnahme darzulegen, weshalb der Vorschlag ihres Erachtens mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht. Die begründete Stellungnahme der Kommission wird zusammen mit den begründeten Stellungnahmen der nationalen Parlamente dem Unionsgesetzgeber vorgelegt, damit dieser sie im Rahmen des Verfahrens berücksichtigt:
a) Vor Abschluss der ersten Lesung prüft der Gesetzgeber (das Europäische Parlament und der Rat), ob der Gesetzgebungsvorschlag mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht;
b) Ist der Gesetzgeber mit der Mehrheit von 55 % der Mitglieder des Rates oder einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen im Europäischen Parlament der Ansicht, dass der Vorschlag nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht, wird der Gesetzgebungsvorschlag nicht weiter geprüft.

Diese Texte offenbaren ein Grundprinzip der EU: Die Parlamente dürfen keine Gesetzesvorschläge einzubringen, sie können lediglich verhindern, dass Gesetzesentwürfe zu gültigen Rechtsakten werden. Allerdings kann nicht einmal eine Mehrheit aller nationalen Parlamente dies bewirken, ein einzelner Nationalrat braucht nicht einmal daran zu denken. Die nationalen Parlamente können lediglich das EU Parlament oder die im Ministerrat gesammelten Vertreter der nationalen Regierungen zwingen, sich mit einem Gesetzesentwurf auseinandersetzen, und auch dann nur dahin gehend, ob der Vorschlag für einen Gesetzgebungsakt nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht oder nicht.

Nun, mancher Leser mag einwenden, dass eine Beteiligung von nationalen Parlamenten an der Formulierung und Verabschiedung von EU Rechtsvorschriften nicht sinnvoll wäre, da es ein demokratisch gewähltes EU Parlament gibt, das diese Aufgabe vermutlich auf europäischer Ebene übernimmt.

Wenn dies so wäre, wäre das ein berechtigter Einwand. Allerdings hat auch das EU Parlament nur sehr beschränkte gesetzgebende Befugnisse. Im Wesentlichen bedeutet dies, dass auch auf EU Ebene die Verwaltung Vorrang vor dem Gesetzgeber hat. In den oben zitierten Stellen wurde der Gesetzgeber auf europäischer Ebene als die Kombination von Parlament und Ministerrat definiert. Letzerer vertritt aber nicht die EU Bürger, also keinen „europäischen“ Souverän, sondern die Ministerien der einzelnen nationalen Regierungen. Es handelt sich bei diesem Gesetzgeber also um ein Zusammenwirken einer Volksvertretung auf EU Ebene und einer Vertretung nationaler Exekutiven. Von einem Parlament, das das exklusive Recht hätte, Gesetzesentwürfe einzubringen, zu besprechen, zu verändern, zu bewilligen oder abzulehnen, ist diese System meilenweit entfernt.

Das EU Parlament ist gegenüber den nationalen Parlamenten nur geringfügig besser gestellt, was ihrRecht, Gesetzesentwürfe einzubringen, betrifft. Artikel 17 VEU erläutert, dass im Normalfall das Recht, Gesetzgebungsakte vorzuschlagen, ausschließlich bei der Kommission, in andern Worten beim obersten Vertreter der EU Verwaltung, liegt. Nur in wenigen, in den Verträgen explizit genannten Fällen, kann das EU Parlament ein Gesetzgebungsverfahren initiieren, ein „Privileg“, das es mit anderen EU Organen teilen muss.

Artikel 17
(2) Soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist, darf ein Gesetzgebungsakt der Union nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden.

Letzten Endes hat das EU Parlament bei der Gesetzgebung nur zwei Möglichkeiten auf einen Gesetzgebungsakt Einfluss zu nehmen:
1) es kann im Trilog mit der Kommission und dem Ministerrat Vorschläge zur Änderung des geplanten Gesetzestextes einbringen und diskutieren,
2) wenn mit Kommission und Rat keine Einigung über den Gesetzestext erzielt werden kann, hat das Parlament das Recht, ein Veto einzulegen.

Letzteres erfolgt in den wenigsten Fällen. Zwischen dem 1. Mai 1999 und dem 1. Januar 2013 hat das Parlament bei 1,166 Gesetzgebungsverfahren das Veto lediglich fünf (5) Mal verwendet, also in nur 0.4 % der Fälle.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Im EU Parlament hat es bis dato keine Mehrheit gegeben, die den Führungsanspruch der EU Kommission, das Streben der EU Institutionen nach engerer politischer Union oder die Kompetenzaufteilung der Lissabonner Verträge in Frage gestellt hätte. Man hat außerdem nicht den Eindruck, dass das EU Parlament sich als die Vertretung eines souveränen europäischen Volkes begreift. Drittens ist das EU Parlament durch den Lissabonner Vertrag verpflichtet, mit den anderen EU Organen loyal zusammenzuarbeiten.

Das EU Parlament hat nie eine Führungsrolle im Gesetzgebungsverfahren für sich reklamiert, sondern war in all den Jahren seines Bestehens mit der ihr zugewiesenen Rolle einer beratenden Kammer an der Seite von Kommission und Ministerrat zufriedengestellt.

Der Verlust unserer Bürgersouveränität

Die EU als gesetzgebende Instanz stellt Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit auf den Kopf. Den historischen Streit zwischen den politischen Gewalten hatte die demokratisch legitimierte Volksvertretung für sich entschieden und sich den Vorrang gegenüber den anderen Gewalten -Judikative und Exekutive – gesichert. Die Verwaltung fungierte lediglich als ausführendes Organ der Exekutive. Die Exekutive konnte nur agieren, wenn sie die Unterstützung einer Mehrheit der Volksvertretung hinter sich hatte. Diese Abhängigkeit der Exekutive von der Volksvertretung sicherte der Volksvertretung ihre letztinstanzliche Autorität als Gesetzgeber zu, da sie die Exekutive durch die Verweigerung ihrer Unterstützung absetzen hätte können und die Verwaltung mittels Gesetzesänderungen kontrollieren konnte. Die Judikative hatte die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die von der Volksvertretung erlassenen Gesetze in der Gesellschaft tatsächlich angewendet wurden.

In der Europäischen Union werden diese Prinzipien umgedreht. Es ist den Volksvertretungen in der EU untersagt eigene Gesetzesentwürfe einzubringen oder bestehende Rechtsvorschriften oder Befugnisse der EU Verwaltungsorgane zu verändern. Die nationalen Parlamente sind am Gesetzgebungsverfahren nicht beteiligt. Das EU Parlament darf lediglich über zukünftige Gesetzesentwürfe diskutieren. Das Verhandlungsergebnis darf sie entweder annehmen oder als letztes Mittel durch ein Veto blockieren.

In diesen Bestimmungen drängt sich eine kuriose Parallele zum Übergang von Absolutismus zu Demokratie auf. Damals, nach den demokratischen Revolutionen im 17. und 18. Jahrhundert, verloren die neuen „konstitutionellen“ Monarchen Europas ihr Recht Gesetze zu erlassen und Minister zu ernennen. Ihnen blieb, als letztes Mittel  um ihre Interessen zu schützen, lediglich  das Recht durch Einlegen eines Vetos ein Vorhaben der Volksversammlung zu blockieren. Ein Recht, das ihnen im Laufe der Zeit dann auch genommen wurde. Unsere Volksvertretungen befinden sich in einer ähnlichen Situation. Die Parallele ist verblüffend. Fast hat man den Eindruck, sie wäre gewollt. Die Mechanismen der EU bewirken jedenfalls zu unserem Erstaunen ein Zurückdrängen demokratischer und eine Wiederbelebung absolutistischer Prinzipien.

Die nationalen Judikativen sind durch den Anwendungsvorrang von EU Recht entmachtet worden. Die neu geschaffen europäische Judikative hat eine neue Aufgabe erhalten: Die Durchsetzung der Interessen der Europäischen Union.

Artikel 13 VEU stellt klar:
(1) Die Union verfügt über einen institutionellen Rahmen, der zum Zweck hat, ihren Werten Geltung zu verschaffen, ihre Ziele zu verfolgen, ihren Interessen, denen ihrer Bürgerinnen und Bürger und denen der Mitgliedstaaten zu dienen sowie die Kohärenz, Effizienz und Kontinuität ihrer Politik und ihrer Maßnahmen sicherzustellen. Die Organe der Union sind
— das Europäische Parlament,
— der Europäische Rat,
— der Rat,
— die Europäische Kommission (im Folgenden „Kommission“),
— der Gerichtshof der Europäischen Union,
— die Europäische Zentralbank,
— der Rechnungshof.
(2) Die Organe arbeiten loyal zusammen.

Die europäische Judikative ist keine politisch neutrale Instanz, sondern eine Gewalt, die eine klar definierte politische Zielsetzung zu erfüllen hat. Es ist nicht zu erwarten, dass der EuGH ein Urteil fällen würde, das den Prozess der europäischen Integration erschweren würde oder die Organe der EU in ihren gesetzgebenden Kompetenzen beschränken würde. Ganz im Gegenteil, wie der Fall Pringle v Republik Irland bewies. In diesem Rechtsstreit ging es um die Frage, ob die Organe der EU bei der Einrichtung des ESM ihre Kompetenzen überschritten hatten.

Der EuGH urteilte, dass gemäß Article 13(1)VEU die Organe der EU verpflichtet sind, loyal zusammen zu arbeiten, die Ziele der EU zu verfolgen und ihre Interessen sowie die Kohärenz und Kontinuität ihrer Politik sicherzustellen. Er befand, dass der ESM ein geeignetes Instrument zur Realisierung dieser Ziele wäre und dass das Inkrafttreten des ESM daher keine vertragswidrige Überschreitung der Kompetenzen der EU Organe darstellte.

"Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."
Jean-Claude Juncker in Die Brüsseler Republik, Der Spiegel, 27. Dezember 1999.

Es gibt keine bessere Beschreibung des Mechanismus, der den Prozess der europäischen Einigung vorantreibt, als dieses berühmte Zitat von Kommissions-Präsidenten Jean-Claude Juncker. Dieser Mechanismus bewirkte eine langsame, aber stete Erweiterung des Wirkungsbereichs der EU Rechts. Auf der anderen Seite entsteht eine von der Bevölkerung sehr wohl festgestellte, aber nicht verhinderbare Aushöhlung der Souveränität.

Unsere Souveränität, individuell wie auch kollektiv, droht nach und nach zu einer leeren Hülse zu verkommen, begleitet von einem entsprechenden Verlust an freien, politisch aktiven und verantwortungsbewussten Bürgern. Ein politisches System, das Passivität fördert, wird schwerwiegende und negative Konsequenzen für unsere Gesellschaften haben.