Die heutige Abstimmung in Großbritannien ist ohne Zweifel ein historisches Ereignis, denn es handelt sich um die erste Abstimmung der Briten über ihre EU Mitgliedschaft. Die Briten haben keinen Anspruch auf Volksabstimmungen und das Ergebnis des Referendums ist für das britische Parlament auch nicht bindend. Großbritannien ist 1972 aufgrund eines Parlamentsbeschlusses Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geworden. Erst 1976 durften die Briten darüber abstimmen, ob sie in der EWG bleiben möchten.

Die Politiker, die den Beitritt zur EWG bewirkten, haben den Briten damals fälschlicherweise gesagt, dass es nur um die Schaffung eines gemeinsamen freien Marktes ginge, (Common Market) und haben verneint, dass es politische Konsequenzen für Großbritannien geben könnte. Als der Maastrichter Vertrag 1991 verabschiedet wurde, wurde den Briten klar, dass diese Information falsch war und der traditionsverbundene Flügel der Conservative Party begann den langjährigen Kampf für eine zweite Volksabstimmung, diesmal eine über den Verbleib Großbritanniens in der EU.

Obwohl Tony Blair eine Volksabstimmung über den Vertrag für eine Verfassung für Europe 2005 versprochen hatte, verschwand dieses Versprechen mit der Niederlage des Verfassungsvertrages in der Schublade. Als dieselben Inhalte 2009 im Lissabonner Vertrag wieder auf den Tisch kamen, wollte er sich an sein Versprechen nicht erinnern. Der Vertrag wurde vom Parlament ratifiziert.

Das Gefühl, dass die Befürworter des European Projects die Bevölkerung in den 70er Jahren bewusst angelogen haben, ist in GB weit verbreitet. Ein Ja zu REMAIN wäre also nicht nur eine Bestätigung des Status Quo. Es wäre eine erstmalige und bewusste Akzeptanz des Konzeptes einer politischen Union in Europa und einer bewusste Zustimmung zu dem politischen System, das durch den Lissabonner Vertrag installiert wurde.

Bei dieser Abstimmung und im Wahlkampf ist es um 3 Hauptthemen gegangen:

1) Soll das gewählte nationale Parlament oder sollen die Institutionen der EU die oberste politische Autorität des Landes sein?
2) Soll Großbritannien sich mit einer europäischen Identität zufrieden geben, oder soll GB sich weiterhin als einen globalen Akteur begreifen, ohne Europa einen besonderen Vorzug zu geben?
3) Garantiert die EU den materiellen Wohlstand des Landes oder gefährdet unkontrollierte Einwanderung die Lebensqualität der Bevölkerung?

Ich habe diese drei Punkte in dieser Wichtigkeit aufgelistet, denn die Wirtschaftsleistung und die Lebensqualität hängen von den politischen Rahmenbedingungen ab und nicht umgekehrt. Im Wahlkampf haben allerdings beide Seiten bewusst den 3. Punkt als Hauptthema der Debatte präsentiert.

Warum? Nun, REMAIN wollte grundsätzlich eine Debatte vermeiden, die sich mit der Frage der demokratischen Legitimität der EU Institutionen als Gesetzgeber und mit der Entmachtung des gewählten Londoner Parlament auseinandergesetzt hätte. REMAIN hat eine reine Angstkampagne geführt, und argumentiert: GB ist zu schwach, um alleine in der Welt wirtschaftlich zu reüssieren. Unser Wohlstand hängt primär von der EU ab. Wohlstand ist wichtiger als ein altmodischer Souveränitätsbegriff. Wenn wir aussteigen, werden die meisten von uns ärmer werden.

Die BREXIT Befürworter haben anfangs versucht, mit einem Eintreten für Verfassung und Demokratie Unterstützung für den Austritt zu gewinnen. Sie haben aber bald gemerkt, dass sie damit die Massen nicht mobilisieren konnte. Sie haben dann BREXIT zu einer Basisabstimmung über Einwanderung umfunktioniert. In den letzten 20 Jahren, seit dem Amtsantritt der Blair Regierung 1997, ist GB von einer massiven Einwanderungswelle beglückt worden. Die political correctness ist allerdings in GB so stark, dass Bedenken über diese Entwicklung in der alltäglichen politischen Debatte kaum Ausdruck finden können. Ein JA zu BREXIT ist plötzlich, und gegen das Erwarten aller Beteiligten schätze ich, zu einem legitimen Ausdruck der Ablehnung der Globalisierungspolitik der vergangenen 20 Jahre geworden.

REMAIN begann den Wahlkampf mit einem klaren Vorsprung, Ihre Argumente konnten aber nicht überzeugen und eine Woche vor dem Wahltag war sie in den Umfragen 6 Punkte hinten. Wie verzweifelt REMAIN war, ist daran zu erkennen, dass ihre Befürworter angefangen haben, die Themen von BREXIT zu übernehmen, und sogar die Bevölkerung offen zu bedrohen. Labour Politiker Alan Johnson erklärte zum Beispiel allen Ernstes, GB müsse in Zukunft die Einwanderung reduzieren, dies wäre als unabhängiges Land unmöglich, nur als Mitglied der EU könnte GB ihre Einwanderung kontrollieren. Finanzminister Osborne drohte den Pensionisten, die sich überproportional für BREXIT begeistern, (angeblich sind die jungen Wähler für die EU), er würde im Falle eines BREXIT Sieges die Staatsfinanzen neu organisieren und ihre Pensionen und Sozialtransfers kürzen. Darauf haben seine eigene Parlamentsabgeordnete erklärte, sie würden das sogenannte Strafbudget torpedieren. Eine Woche vor dem Wahltag drohte REMAIN intellektuell zu implodieren, das Momentum war eindeutig mit BREXIT.

Der Mord an Jo Cox eine Woche vor Wahltag kam wie gerufen. Er hatte eine ähnliche Wirkung wie ein Time out in einem Basketball Spiel. REMAIN hat sofort ihre Wahlkampagne suspendiert und damit BREXIT gezwungen, gleichzuziehen. Die Vorwärtsbewegung von Brexit wurde gestoppt und es ist BREXIT seit dem Mord nicht gelungen, dieses Momentum wieder aufzubauen. Falls REMAIN gewinnt, wird der Mord zweifellos einen Anteil daran haben. Obwohl BREXIT nicht mehr mit derselben Vehemenz Wahl kämpfen konnte wie vor dem Mord, haben die pro EU Medien und zahlreiche Politiker aus ganz Europa einen koordinierten Versuch unternommen, BREXIT mit einer psychologischen Verantwortung für den Mord zu behaften.

Die Wahllokale schließen heute um 22h britische Zeit (23h MEZ). Die Stimmen werden über Nacht gezählt. Eine Hochrechnung sollte ab 4 Uhr früh möglich sein, das Endergebnis zum Frühstück am Freitag feststehen.

Für jene, die das Eintrudeln der Ergebnisse live mit verfolgen möchten, normalerweise ist SKY News im Internet zugänglich. DIese hat eine sehr gute Berichterstattung. BBC World wird wahrscheinlich auch ein Wahlkampfstudio anbieten, die Sender BBC und ITV sind in Kontinentaleuropa nicht gratis zu empfangen.

Zur Einstimmung ein großartiges Video mit Margaret Thatcher, das den britischen Parlamentarismus von seiner besten Seite zeigt. Das Video stammt aus dem Jahr 1990, als die Transformation der EG in die EU plötzlich auf der Tagesordnung auftauchte.

Am 01. November 1993 trat der so genannte Maastrichter Vertrag zur Gründung der EU in Kraft. 2 Jahre zuvor am 20. September 1988 hielt Margaret Thatcher ihren legendären Vortrag In Brügge, der die Geburtsstunde der Euroskeptischen Bewegung markiert.