Während die Demokraten darin aufgingen, einen guten Mechanismus für die keimende gesellschaftliche Macht zu finden, das heißt für die Wahlen und die Volksvertretungen, ließen sie beinahe jedes andere menschliche Bedürfnis unbeachtet. Denn gleichgültig, wie Macht entsteht, es bleibt des Hauptproblem, wie Macht ausgeübt wird. Was die Qualität einer Kultur bestimmt, ist der Gebrauch der Macht. Und dieser Gebrauch kann nicht an der Quelle vorbestimmt werden" (LIPPMANN Walter, DIE ÖFFENTLICHE MEINUNG. S.214.)

Blicken wir ein paar Jahre zurück und über den großen Teich. Rund ein Jahr vor 9/11, als der damals neue US-Präsident in einem Kindergarten weilte, ein Buch verkehrt herum hielt und vom bekannten Anschlag in New York hörte. Ein Jahr vor dem Beginn des „war on terror“ und der damit begründeten Kriege sowie der nahezu globalen Aushöhlung individueller Freiheitsrechte beziehungsweise internationaler Rechtsgrundsätze.

Am 07.11.2000 hatten die stimmberechtigten US-Bürger einen neuen Präsidenten gewählt, G.W. Bush. Zumindest solange man das US-amerikanische System als ein demokratisches Wahl bzw. ein Auswahlsystem betrachtet. Tatsächlich jedoch handelt es sich bei einer Präsidentenwahl in den USA in erster Linie um die traditionsreiche Inszenierung eines Bartergeschäfts innerhalb des Establishments, bei dem eine Gruppe sich dafür bezahlen lässt, im Falle eines „Wahlerfolges“ (= sehr teurer Marketingevent mit verschiedenen Großteils vorgeschriebenen Initiationsriten, symbolträchtigen (Schein-)Gefechten und großem Show-Down) die Interessen der anderen – geldgebenden – Gruppen vorrangig zu behandeln bzw. deren Aufträge auszuführen. Das Drehbuch dieser Show ist seit Jahrzehnten unverändert. Im ersten Akt müssen sich die Kandidaten einem Spießrutenlauf der privaten Entblößung und anbiedernden Versprechungen unterziehen, sich möglichst vielen Geldgebern andienen und dem Initiationsritual des fraternisierenden Händeschüttelns und erhabenen Fahnenverehrens und -beschwörens unterwerfen. Im zweiten Akt gilt es, sich in einer Art Generalprobe gegenüber den Rivalen innerhalb des eigenen Lagers durchzusetzen und die „kleine Wahl“, d.h. die Schlacht am Parteikonvent, zu gewinnen. Im aktuellen Fall bekommt diese Inszenierung durch das Antreten von John Wayne, alias Donald Trump als republikanischer Kandidat eine neue Note. Zusätzlich Würzung erhält die Show durch seine Kontrahentin, Hillary Clinton quasi die Symbolfigur für Washington D.C. Wenn schon nicht Inhalte, die zeigen sich, wenn überhaupt und nur theoretisch ohnehin erst nach der Wahl, wirklich unterscheiden, dann wenigstens die Figuren. Für einen Rest an Spannung ist also gesorgt, inklusive der – zumindest momentanen – Nebendarsteller.

Ist diese Schlacht erfolgreich geschlagen, so schwören sowohl die eigenen Anhänger als auch die unterlegenen Gegner dem neuen Kandidaten Treue und Unterstützung und feiern ihn bereits (symbolisch) als neuen Präsidenten, wenigstens um der eigenen Konditionierung und Motivierung Genüge zu tun. Im dritten Akt nun müssen sich die verbliebenen Kandidaten erneut dem Ritual der Entblößung, Anbiederung und dem wiederholten Schwur auf höhere Ziele unterziehen. Hinzu kommen noch verschiedene Schaukämpfe und die Schlachten der jeweiligen Anhänger und Berater auf den Nebenfronten. Im vierten Akt – dem großen Show-Down – unterwerfen sich die Kandidaten nochmals symbolisch dem vermeintlichen Souverän und bitten diesen um Teilnahme und Stimme bei einem anachronistischen Wahlsystem. Am späten Abend des 07.11. kommt es dann traditionell zum Happy End und die unterlegenen Kandidaten gratulieren als gute Verlierer dem Sieger, wünschen ihm alles Gute und versprechen ihm, ihn bei seiner Arbeit für das Gute – die USA verstehen sich als weitgehend als synonym für alles Gute – nach Kräften zu unterstützen. Der Sieger seinerseits dankt (meist in dieser Reihenfolge) Gott und/oder seiner Familie, seinen Freunden, Weggefährten, Wählern und Amerikanern für ihre Unterstützung und verspricht nochmals feierlich und mit aller Kraft, den Vereinigten Staaten und damit der ganzen freien (?) Welt" zu dienen.

Parallel dazu verfolgt und interpretiert eine Heerschar an Kommentatoren, Lobbyisten, Wissenschaftlern und so- oder selbsternannter Experten sowohl die ganze Inszenierung als auch das Ergebnis des Show-Downs, während sich der vermeintliche Souverän, nachdem er durch den Akt der Wahl (sofern er daran überhaupt teilgenommen hat) seiner symbolischen Macht Ausdruck verleihen hat, wieder dem Alltäglichen zuwendet. Soweit das Drehbuch. Am 07.11.2000 jedoch nahm die Inszenierung eine abrupte und unerwartete Wendung. Während sich die ganze Welt wie der Besucher im Kino auf das erlösende Happy End eines in Wahrheit zutiefst langweiligen Films freute, riss dieser im letzten Moment. Florida unter Gouverneur Jeb Bush brauchte mehr als einen Monat, um die Stimmen zu zählen. Ja, so etwas gibt’s. Letztendlich waren es angeblich 537 Stimmen, die den Ausschlag zugunsten der Bush-Dynastie gaben. In genau diesem kritischen Moment zeigte sich die systemerhaltende Funktion der Medien von ihrer stärksten Seite. Anstatt das anachronistische System mit mechanischen Wahlmaschinen als solches zu hinterfragen, oder die Frage zu thematisieren, warum der Supreme Court die neuerliche Nachzählung der Stimmen verbot, inszenierten sie den Filmriss wie eine Episode einer „real-life soap-opera“. Die USA hatten einen neuen Präsidenten und damit hat sich's. Ende der Debatte und damit übergeben wir zum Sport.

In der Realität ging und geht es nicht um einen Akt der Demokratie im ursprünglichen, idealtypischen Sinne von Volksherrschaft, sondern um das möglichst systemkonforme Arrangieren eines symbolischen Aktes, einer Show. Eine tiefergehende Auseinandersetzung darf hier wenn, dann höchstens im privaten und vielleicht (noch?) im akademischen Kreis stattfinden. Dabei dürfte selbst die Mehrzahl jener, die bei der Präsidentenwahl ihre Stimme abgegeben haben, sich des de facto nur symbolischen und die eigentlichen Machtzusammenhänge verschleiernden Gehaltes des Wahlaktes durchaus bewusst sind. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie sehr man wirklich mitbestimmen und damit auch Verantwortung übernehmen will. Es ist dies eine Frage, die über die reine Herrschaftstheorie, wie sie etwa von Thomas Hobbes vertreten wird, weit hinausgeht. Jean Baudrillard spricht in diesem Zusammenhang von der Leidenschaft des Subjekts, selbst nur Objekt zu sein, und folgt damit Überlegungen von C.G. Jung. Murray Edelmann wiederum weist auf den Aspekt hin, dass es den meisten Menschen offenbar unerträglich ist, sich einzugestehen, in welchem Ausmaß Zufall, Nichtwissen und Unvorhersehbares sein Leben bestimmt und es eine zentrale Funktion der jeweiligen politischen Führer ist, diese undurchschaubare Prozesse zu personifizieren und damit quasi greifbar zu machen, sie zu entschärfen.

Damit stellt sich weniger die eigentlich nur oberflächliche Frage der demokratiepolitischen Legitimität einer Wahl mit verschiedenen Wahlzetteln, teilweise über 100 Jahre alten Wahlmaschinen und der Institution von Wahlmännern, derartige Anachronismen gibt es in unterschiedlicher Form in fast jedem „demokratischen“ Staat. Es stellt sich vielmehr die grundsätzliche Frage: Entspricht unsere Demokratie westlicher Prägung den eigenen Ansprüchen? Demokratie wird allgemein als Volksherrschaft übersetzt und nach Lincoln als „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk beschrieben“. Untrennbar verbunden mit der Vorstellung der Demokratie ist auch die Vorstellung der Volkssouveränität (spätestens seit der französischen Revolution), der Gewaltenteilung und der allgemeinen Freiheits- und Menschenrechte.

Herrschaftsalternativen zur Demokratie wie Monarchie oder Aristokratie gelten in der aktuellen politischen Diskussion als – im Moment – nicht realistisch. Als Gefahr für die Demokratie werden daher nur drei Entwicklungsmöglichkeiten angesehen. Es sind dies die Tyrannis, die Oligarchie und die Ochlokratie. Während letztere eher von philosophiegeschichtlichem Interesse ist, haben die beiden anderen, die Tyrannis und die Oligarchie, durchaus realpolitischen Hintergrund. Obwohl, angesichts so mancher Politiker ist man nicht nur versucht, die Ochlokratie als bereits existent anzusehen, allerdings mit der schon fast sprichwörtlichen, dem bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer zugeschriebenen Einschränkung: „Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.“

Soweit die Theorie. Heute findet sich die Idee von Demokratie bzw. der Anspruch auf Demokratie zwar in fast allen nationalen (staatlichen) und internationalen Verfassungen (Vereinte Nationen, EU), doch sind diese Verfassungen, gemessen an der Idee der Demokratie, nur (noch?) mehr oder weniger leere Legitimationshüllen für die jeweils herrschenden meist oligarchischen realpolitischen Verhältnisse. Exemplarisch für die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit sind etwa die Idee oder besser die Fiktionalität der Repräsentation, das sogenannte „Freie Mandat“, die Trennung bzw. Machtbalance zwischen Exekutive und Legislative (Stichwort Gewaltenteilung) im nationalstaatlichen sowie die angebliche souveräne Gleichheit der Staaten im internationalen Verfassungsbereich, dem Völkerrecht. Diese zentralen Grundsätze der jeweiligen Verfassungen werden zwar immer wieder im Rahmen des politischen Marketings betont, erweisen sich aber in der Praxis als weitgehende Fiktion. Tatsächlich verbirgt sich hinter diesen scheindemokratischen Systemen die Herrschaft demokratisch nicht legitimierter Oligarchien bzw. das, zumindest auf den ersten Blick simple, Recht des Stärkeren.