Mit der Entscheidung für Brexit wurde der erste Schritt getan, aber nicht mehr als das. In Zukunft werden gewählte Parlamentarier die Gesetze machen, an Stelle von nicht gewählten Bürokraten, die im Ausland leben und von der Bevölkerung nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Diese Parlamentswahlen sind die ersten Wahlen, die im Bewusstsein einer notwendigen politischen Selbstbestimmung stattfinden. Aber wie diese Selbstbestimmung genau ausschauen wird, das wird erst das neugewählte Parlament entscheiden.

Die Radikalität dieser Veränderung ist den Wählern erst im Wahlkampf klar geworden. Seit Jahrzehnten wird der gesetzliche Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Technokraten in Brüssel diktiert. Seit Jahren haben europäische Politiker lediglich die Aufgabe, zu diesen Entscheidungen ja zu sagen und die heimischen Bevölkerung von der Notwendigkeit und Richtigkeit dieser Entscheidungen zu überzeugen. Ab morgen hat der Politiker eine neue und zugleich alte Aufgabe und die Europäische Union bekommt ein Konkurrenzmodell: ab Freitag müssen britischen Politiker ernsthaft über politischen Problem nachdenken und Lösungen vertreten, die im Interesse ihrer Wähler sind. Es ist die Erkenntnis, daß die Wähler tatsächlich zwischen unterschiedlichen Lösungsansätzen entscheiden können, die den Wahlkampf spannend gemacht hat, und diese Erkenntnis ist nicht zuletzt dem Labour Führer Jeremy Corbyn zu verdanken.

Jeremy Corbyn, wie viele linken Politiker in GB, seit jeher ein Gegner der EU und hat klar gemacht, daß er den Brexit nicht rückgängig machen will. Wie viele linken Politiker Großbritanniens lehnt er das politische System der EU seit jeher ab. Darüber hinaus ist seine höchste Priorität anscheinend nicht, Premierminister zu werden, sondern die politische Debatte über die Zukunft des Landes zu erweitern und neu zu gestalten. Nigel Farage hat gezeigt, daß es nicht notwendig ist, eine Regierung zu bilden um politische Entscheidungen zu beeinflussen und Jeremy Corbyn hat zweifellos ähnliche Ambitionen. Es ist ihm jedenfalls im Wahlkampf gelungen, sich als Vertreter der Gegner des heimischen politischen Establishments zu etablieren . Wir dürfen nicht vergessen, dass er von den Parteimitgliedern zum Parteiführer gewählt wurde, um die Labour Partei von der Clique um den in der Labour Party verhassten Tony Blair, Vertreter des transatlantischen Establishments par excellence, zu befreien. Sein Ziel dürfte sein, einen Achtungserfolg bei den Parlamentswahlen zu erreichen, um seine Machtbasis innerhalb der Partei abzusichern und dann aus der Opposition heraus, die Bevölkerung von der Richtigkeit seiner Politik immer stärker zu überzeugen.

Im Folgenden möchte ich in keiner besonderen Reihenfolge stichwortartig einige wichtigen Aspekte dieser Wahl beleuchten. Vor allem darf man nicht vergessen, daß die Bevölkerung in einzelnen Wahlkreise jeweils einen Volksvertreter für ihren Wahlkreis wählt. Es gibt kein von den Parteien zentral gesteuertes Listensystem. Dies bedeutet, daß die lokalen Parteien großen Einfluss auf die Auswahl der Parlamentskandidaten haben.

Labour Party
Die Labour Party in GB unterscheidet sich grundlegend von der europäischen Linke. Die europäische Linke strebt eine zentralgesteuerte, technokratische Herrschaft an, die eine kleine mächtige Minderheit ermächtigt, darüber zu entscheiden, was für das Volk gut sei. In UK ist die Linke basisdemokratisch eingestellt, und in allen Parteien haben die einfachen Mitglieder sehr viel Einfluss über Personalentscheidungen. Die Extremlinke in UK hat die EU als etwas, dass die gewählte Volksvertretung entmündigt und im Interesse mächtiger Lobbys agiert, immer abgelehnt und steht natürlich auch dem transatlantischen Neo-Imperialismus und dem Finanzkapitalismus feindlich gegenüber. Corbyn`s Labour Partei hat daher wenig Interesse daran, den BREXIT rückgängig zu machen, sondern will andere Probleme angehen.

Davon hat GB genug: Massive Verschuldung, sowohl der privaten Haushalte wie auch des Staates, eine finanzielle und logistische Überforderung des Gesundheits- und Bildungssystems, eine massive Kluft zwischen Reich und Arm, einen überteuerten Immobilienmarkt, Probleme bei der Finanzierung der Pensionen uvm.

Der Glaube an die Erlösung durch den Sozialismus ist in weiten Teilen der britischen Bevölkerung noch ungebrochen und gerade als Social Justice Warrior genießt Corbyn hohe Glaubwürdigkeit.

Darüber hinaus zieht er jene an, die dem Finanzsystem skeptisch gegenüber stehen, den angloamerikanischen Neo-Imperialismus bzw. den Zionismus ablehnen, die Machenschaften des politische Establishments untersuchen wollen, für Versöhnung mit Russland und gegen Krieg sind, für Gemeinwohlökonomie sind, für Basisdemokratie und gegen den sich gerade etablierenden Polizeistaat sind. Hier ist nicht entscheidend, ob Herr Corbyn diesen Erwartungen und Hoffnungen entsprechen wird. Wichtig ist die Gewissheit, daß Frau May für solche Hoffnungen überhaupt nicht in Frage kommt.

Zu guter Letzt präsentiert Corbyn sich als Vertreter eines Soft Brexit und strebt eine harmonische Zusammenarbeit mit und eine einvernehmliche Trennung von der EU. Für Brexiteers, die Angst vor einem Hard Brexit haben, ist dies eine attraktive Alternative.

Die Konservativen
Die Konservativen haben zweifellos gedacht, sie könnten Jeremy Corbyn als einen Schwächling und Linksextremisten darstellen, seine mangelnde Popularität ausnützen, um eine massive Mehrheit in Parlament zu bekommen und somit freie Hand bei der Neugestaltung des Landes zu haben. Möglicherweise haben sie sich aus verschiedenen Gründen verschätzt.

  1. Die Konservativen haben seit Thatchers Tagen den Ruf, sozial kalt zu sein. Obwohl May in Merkel-Macron Manier versucht, sich als sozial-liberale-Konservative darzustellen, ist es ihr nicht gelungen, dieses negative Image abzuschütteln.

  2. May hat, im Gegenzug zu Corbyn, wenig Glaubwürdigkeit. Als Innenminister hat sie Jahr für Jahr angekündigt, die Einwanderung auf wenige 10 000er pro Jahr reduzieren zu wollen und hat stets, entweder aus Inkompetenz oder Absicht dieses Ziel meilenweit verfehlt. Terroranschläge, die für gewöhnlich eine Regierung stärken, sind gerade für eine Innenministerin eine Bankrotterklärung. Ihr Wunsch, als Antwort auf die Terroranschläge, die polizeiliche Überwachung der Privatsphäre auszuweiten, wird bei manchen Konservativen auch nicht gut ankommen. Sie hat Unentschlossenheit im Wahlkampf demonstriert, als sie das eigene Parteiprogramm desavouiert, nachdem Labour ihr vorgeworfen hatte, sozial Schwachen zu benachteiligen. Zu guter Letzt bereitet ihr auch der Brexit Probleme: vor dem Referendum hat sie erklärt, ein Hard Brexit würde katastrophale Folgen für GB haben, jetzt behauptet sie, ein Hard Brexit würde kein Problem darstellen.

  3. Frau May wäre gern ein Klon von Margaret Thatcher. Aber Thatcher hatte eine libertäre Ader. Sie vertrat kompromisslos die These, daß individuelle Leistung sich auszahlen muss und hat kollektive Ansprüche stets abgelehnt. Sie hat diese Prinzipien auch gegen das Establishment vertreten. Frau May ist nicht nur sozialliberal, sie ist eindeutig ein Vertreter des Establishments. Die drei Geißeln der modernen Welt: der Tiefe Staat, die Globalisation in seiner neo-liberalen Prägung, sowie die Verwandlung des Rechtsstaates in einen Überwachungsstaat mit eingeschränktem Schutz individueller Menschenrechte, sind in London tief verankert und Frau May ist eindeutig ein eifriger Vertreter dieser Machtinstrumente.

Die Liberal Democrats
Ähnlich der FDP, wurden die Liberal Democrats bei den letzten Wahlen dezimiert. Doch der Brexit bietet den Lib-Dems eine Möglichkeit, wie der Phönix aus der Asche zu steigen. Mit klassischem britischen Liberalismus hat die Partei wenig zu tun, die Liberal Party fusionierte Anfang der 80er Jahre mit der Social Democratic Party ist seit dem linksliberal eingestellt. Dem EU-philen Mittelstand bietet sie als einzige pro-EU Partei in England eine Alternative zu den Tories, und linken Intellektuellen bietet sie eine gemäßigte, Status Quo erhaltende Alternative zum linken Sozialismus Jeremy Corbyn´s.

Schottland
Schottland ist eine Wild Card bei dieser Wahl. Man muss vor allem eins verstehen: die Unabhängigkeit, die die Scottish National Party anstrebt, ist keine wahre Unabhängigkeit, wie die Schweiz oder Norwegen sie sie theoretisch genießen. Die SNP strebte eine Unabhängigkeit innerhalb der EU an, nach dem Vorbild der Tscheche-Slowakei. Dies war auch nachvollziehbar: warum sollte Schottland nicht direkt mit Brüssel verhandeln, wie die Slowaken es seit Jahren tun. Warum sollten die Schotten akzeptieren, daß London in Ihrem Namen mit Brüssel spricht, wenn die Slowaken Prag abgeschüttelt haben? Die SNP hatte zum Zeitpunkt der Volksabstimmung überhaupt kein Interesse an eine wahre Unabhängigkeit: sie wollte keine eigene schottische Zentralbank gründen und auch nicht eine eigene Währung einführen, sondern wollte das englische Pfund weiterhin verwenden. Auch haben die Schotten sicherlich kein Interesse an eine harte Außengrenze zu England und dem damit verbundenen Verlust des bedingungslosen Arbeits- und Aufenthaltstrechts in England.

Seit Brexit stellt sich die Unabhängigkeit ganz anders dar. Unabhängigkeit wird eine radikale Trennung von England bedeuten. Zweifellos war einer der Gründe für diese früh angesetzten Parlamentswahlen die Hoffnung Londons, daß viele Schotten diese Form der Unabhängigkeit nicht wünschen. Die Wahl könnte zeigen, daß es in Schottland keine Mehrheit mehr für eine Zerschlagung der britischen Union gibt und die Konservativen, die bei der letzten Wahl in Schottland vernichtend geschlagen wurden, können sich 2017 als Partei der Union profilieren. Die SNP ist dazu verdammt, die Unabhängigkeit um jeden Preis anzustreben.

Der Ausgang der heutigen Wahl hängt von folgenden Faktoren ab:

Südengland
Werden die Liberal Democrats in EU-philen Wahlkreisen in Südengland, wie Oxford, Cambridge und London den Konservativen genug Stimmen wegnehmen, um ihnen Mandatsverluste zu bescheren?

Nordengland
Wird die Arbeiterklasse in Nordengland und Südwales, die zuletzt UKIP gewählt hat, zu Labour zurückkehren, bei UKIP bleiben, oder zu den Tories wechseln?.

Schottland
Wird die SNP in Schottland schlecht abschneiden, oder sich behaupten können?

Conclusio
Ein Sieg der Konservativen ist zweifellos ein „foregone Conclusion“ . Sozialismus ist zwar in manchen Teilen der Bevölkerung populär, aber der Lebenslauf und ökonomischen Vorstellungen von Jeremy Corbyn sind sicherlich für die Mehrheit des englischen Mittelstandes ein absolutes No Go.

Aber gerade weil der Sieg von May sicher ist, wird es vielen Leuten wichtig sein, eine kraftvolle demokratische Opposition ins Unterhaus zu wählen. Es wäre dem Land zu wünschen, dass Corbyn genug Stimmen bekommen wird, um aus der Opposition heraus eine Debatte anzustoßen, in der die vielen Probleme des Landes und Europas erörtert werden können und welche zu einer Hinterfragung und Neugestaltung überkommener Machtstrukturen und misslungener innen- und außenpolitischen Strategien führen wird. Eine Debatte über das Finanzsystem, über den Krieg gegen Terror und die Rolle der NATO, über den Schutz der Privatsphäre und die Machtbefugnisse der Security Services ist dringend erforderlich, und nicht nur in Großbritannien.

Ich werde ab 01:00 MEZ berichten, als die ersten Ergebnisse eintrudeln. Mit einem klaren Ergebnis dürfte man ab 05:00 MEZ rechnen können.