Von Jerewan nach Bangkok ist die Distanz etwa um ein Viertel geringer als von Jerewan nach Lissabon. Man muß sich einmal die Lage Armeniens vergegenwärtigen - östlich der Türkei, südöstlich von Georgien, nordwestlich vom Iran und dennoch weitetgehend östlich von Bagdad gelegen, zählt diese europäische, ur-christliche Kulturnation lediglich knapp 3 Millionen Einwohner. Und jetzt folgt eine Flut an „aber“ - denn der Staat Armenien, ist nur ein kleiner Teil des armensichen Siedlungsgebiets, jene armenische Provinz Persiens, die im russisch-persisichen Krieg 1828 an Russland verloren ging. Später bildete die Sowjetrepublik Armenien die heutige Republik Armenien, wobei auf die Rolle Nagorno-Karbachs noch an späterer Stelle ausführlich eingegangen wird.

Denn das nächste „Aber“ ist die Diaspora, vor allem geschuldet durch den systematischen Genozid an den Armeniern  durch die Jungtürken 1915/16, jene reformistischen Revolutionseiferer, welche die „kriegsbedingten Deportationsmaßnahmen" der armenischen Bevölkerung“ mit Massenmorden, Hungermärschen und gezielten Pogromen beschleunigten und welche rund 1,5 Millionen Armenier das Leben kostete. Laut einer Volkszählung des armenisch-apostolischen Patriachats von Konstantinopel betrug die Anzahl der Armenier vor dem Genozid etwa 2 Millionen, überwiegend in Ost-Anatolien (den heutigen „Kurdengebieten) und in Konstantinopel und Smyrna (Izmir) selber.

Ende des 19. Jahrhunderts erfolgten bereits einige Massaker und Pogrome seitens der Kurden an den Armeniern, die bis zu 300.000 Armeniern das Leben kostete - soviel an „unsere“ Kurdenfreunde quer durch alle Parteien in der BRD, leider inklusive der "rechts-populisitischen"! 
Während es bei den kurdischen Pogromen an den Armeniern um kurdischen Steuerwucher und Landraub ging, erfolgte der spätere, osmanische Genozid - dieser erfolgte über Deportationsgesetze aus 1915 - aus blindem Nationalismus, Hass und Habgier. Es gibt hiezu mannigfaltige Literatur, selbst Wikipedia bietet einen guten Einblick in die Geschehnisse.

Ich will mich daher nicht länger mit den absolut wichtigen historischen Aspekten Armeniens beschäftigen, die das Verhältnis der Armenier zur Türkei, zu Aserbaidschan zur Schutzmacht Russland und zum Iran als Nachfolger des Persischen Reichs wesentlich verständlicher machen, sondern dazu aufrufen, entsprechende Informationsquellen bei Interesse nachzulesen und zu vertiefen.
Wenn wir also nun die Anzahl der armenischen Bevölkerung von 3 Millionen Einwohnern verstehen und in Relation zur Diaspora setzen, die je nach Zählungen zwischen 5,5-10,5 Millionen Armenier weltweit zählt, dann verstehen wir die Bedeutung der Diaspora. Sie alle sind Geschichtsträger der türkischen Verbrechen, Botschafter Armeniens und mit ihrem großzügigen Wirken für die alte (Rest)Heimat ökonomisches Rückgrat seiner staatlichen Existenz - man kann sich gewisser Parallelen zu Israel nicht verschließen, wenngleich die Gründung der heutigen Republik Armenien keine Vertreibung der angestammten Bevölkerung zu Grunde gelegt war.

Die heutige Republik Armenien, die 1991 die Unabhängigkeit im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion erlangte, beherbergt zwei russische Militärbasen und zwar im Norden, in der zweitgrößten Stadt Gyumeri (Flak, Panzerbrigaden, Scharfschützen) und eine Hubschrauber-Basis in Erebuni, direkt vor Jerewan. Es war dies während des Kalten Krieges eine der am schärfsten bewachten, heißesten Grenzen zwischen der NATO und der Sowjetunion - umso ungeheuerlicher die Vorstellung, daß demnächst auf türkischem Gebiet russische S-400 stationiert werden!
Wenn man sich nun wieder die Landkarte vergegenwärtigt, so sieht man, daß beide in Sichtweite der Türkei liegen, so wie sich der Ararat majestätisch vor den Toren Jerewans erhebt, jener „heilige Berg“ der Armenier unter türkischer Verwaltung, so wohlgeformt wie der gleichnamige armenische Cognac.

Und so wundert es auch nicht, daß bis heute russisch und englisch obligatorische Schulunterrichtsfächer sind, wobei selbst Schulkinder besser russisch als englisch beherrschen. Russisch, die „lingua franca“ der Ex-Sowjetunion, hat seine Stellung in zahlreichen penetrant nationalistischen Ex-Sowjet-Republiken wie Usbekistan, Turkmenistan und selbst Kasachstan nicht mehr  - ganz zu schweigen vom Narren-Regime in Kiew - in Armenien ist es jedoch allgegenwärtig mit weitreichenden Konsequenzen politischer und kultureller Natur. Russische Schlager werden ebenso gehört wie einheimische und mehr noch als westliche, russische TV-Sender mehr gesehen als einheimische oder gar westliche und ein Blick auf die Fluginformationstafeln am Flughafen Jerewan zeigt, wo die Reise hingeht  - gut die Hälfte aller Flüge verbinden Moskau, nur wenige nach Frankfurt, Paris, Rom und Wien.

Russland läßt sich seine Schutzmachtfunktion aber auch einiges kosten. Armenien ist nicht nur GUS-Mitglied, sondern auch Mitglied des russischen Verteidigungsbündnisses OVKS. Das rohstoffarme Land mit wenig Industrie benötigt dringlich das russische Erdgas und Benzin zu außerordentlich freundschaftlichen Konditionen. Ansonsten ist das landwirtschaftlich geprägte Land bekannt für seine phantastische grüne Landschaft, seine hervorragende Wasserqualität und bedingt durch das milde Klima auch für seine hervorragenden Agrarprodukte, die zwar exportiert werden, dennoch das massive Handelsbilanzdefizit nicht wettmachen. Alleine die Geldzuwendungen der Diaspora an die Familien in Armenien betragen nach Schätzungen rund 10% des BIP. Der natürliche Reichtum des Landes und die zutiefst christliche kulturelle Prägung der Gesellschaft läßt aber durchaus keinen Eindruck bitterster Armut und dreckigen Elends aufkommen. Selbst in einfachsten Dörfern  liegt weder Müll auf der Straße, noch sieht man Menschen in Lumpen, verdreckte Kinder, oder Nutztiere aus den Wohnhäusern blicken - anders als in vielen muslimisch geprägten Regionen des Kaukasus. Armenien ist ein äußerst sicheres Land - Sie können unbekümmert nachts durch Jerewan und jede andere Stadt flanieren.

Die clanartige Gesellschaft, die Bedeutung der Großfamilie, der Religion und Traditionen ist von einer typisch südländischen Intensität, die in unserer „Westlichen Wertegemeinschaft“ mit „Handy und Computer-Entzugsanstalten“, magersüchtigen 10-jährigen und „pan-sexuellen“, undefinierten Konsum-Heiden wirkt, als wäre sie aus einer fernen Welt und Zeit.
Und so ist dieses von Europa im Stich gelassene Land an seinem östlichsten Rand trotz 70 Jahre Sowjetunion weitgehend unbeschadet geblieben, visa-frei für den EU-Reisenden zu besuchen, der die frühmittelalterlichen, festungsartigen Klosteranlagen, und die grandiose Landschaft besichtigen möchte.

Bezüglich der politischen Ereignisse der letzten Wochen kann weitgehend Entwarnung gegeben werden. Obwohl USAID und die Open Society auch in Armenien ihr Unwesen treiben, ist der neue Premierminister Nikol Paschinjan unmittelbar nach seiner Amtseinführung zu Putin gereist um zu betonen, daß alles außenpolitisch bleibt wie gehabt. Während er den Kampf gegen Armut und Korruption fortsetzen möchte ist jetzt keine Rede mehr davon aus der russischen Wirtschaftsunion auszutreten. Im Gegenzug versprach Putin weiterhin massive russische Wirtschaftshilfe. Man muß natürlich Armenien mit seiner starken und vor allem reichen und einflußreichen Diaspora in den USA und Frankreich attestieren, bis zu einem gewissen Grad ein balanciertes Verhältnis suchen zu müssen um seine historischen Anliegen zu deponieren und politisch, als auch wirtschaftlich zu lobbyieren. Das Verhältnis zur Türkei ist durch zahlreiche Gesten Erdogans etwas entspannter, wohl auch durch das verbesserte Verhältnis zwischen Putin und Erdogan. Zu Aserbaidschan bleibt es nach dem beinahe-Krieg 2016 angespannt, jedoch ist die Zuwendung Aserbaidschans nach Russland auch ein weiteres Indiz für eine gewisse Stabilität.

Potenzielle Unruheherde könnten internationale Auseinandersetzungen mit dem Iran bringen, der ein wichtiges Ventil für das weitgehend von Feinden umgebene Binnenland Armenien ist, jedoch jährlich zehntausende Touristen nach Armenien lockt oder aber auch ein provozierter NATO-Beitritt Georgiens über dessen Hafen Poti die meisten Waren von und nach Armenien verschoben werden. Ein solcher NATO-Beitritt Georgiens würde mit Sicherheit massive Reaktionen Russlands hervorrufen, die sich auf Armenien auswirken würden.

Im nächsten Teil erfolgt eine nähere Betrachtung Nagorno-Karabachs, Epizentrum eines jahrzehntelangen Konflikts, kulturelle und ideelle Hochburg Armeniens, Hort der stolzen kriegerischen „Berg-Armenier“.