Die Auswirkungen von Brexit auf Europa sind so enorm und die Nachbeben innerhalb Großbritanniens schon jetzt so gewaltig, dass man eine Serie von Artikeln brauchen würde, um diese ausführlich zu besprechen.

Ich möchte lediglich auf 3 Fragen eingehen, die übers Wochenende aufgeworfen wurden:

1) Ist BREXIT ein Elitenprojekt oder eine Revolte der Basis?
2) Was passiert als Nächstes?
3) Was passiert mit Schottland?


1) War BREXIT ein Elitenprojekt?

Es gibt für große Ereignisse selten nur einen Auslöser, ein gutes Beispiel in dieser Hinsicht ist Syrien. Viele Akteure haben ein Interesse an einem Sturz der Assad Regierung : USA, Türkei, Israel, Öl und Gas Unternehmen, die demokratische Opposition im Lande, die islamischen Fundamentalisten innerhalb und außerhalb des Landes. Jeder hat einen anderen Grund für seine Ablehnung der Regierung Assad, aber sie sind sich in diesem einen Punkt einig und bilden eine Interessensgemeinschaft, um dieses gemeinsame Ziel zu erreichen. Es wäre daher kein Widerspruch in sich, wenn Brexit sowohl ein Elitenprojekt wie auch eine Basisrevolte wäre. Dass BREXIT eine Basisrevolte war, ist jedem klar. Die Frage ist daher, ob BREXIT auch ein Elitenprojekt ist. Was könnte für diese Einschätzung sprechen?

Ich möchte auf den Artikel  Brexit in a historical context Part 2  hinweisen. In diesem Artikel wird die historische außenpolitische Strategie der britischen Elite dargelegt und auch betont, dass Großbritannien immer am erfolgreichsten war, wenn die Interessen der großen Masse der Bevölkerung und die Interessen der britischen Elite sich überlappten und die britische Bevölkerung dazu mobilisiert werden konnte, ihre Energie zur Absicherung von Elitenprojekten einzusetzen, auch wenn die einzelnen Ingenieure, Matrosen, Handelsreisende, Forscher usw. für sich ganz andere Ziele verfolgten.

Zwei Beiträge, die vor kurzem erschienen sind, behaupten, in BREXIT eine besondere Strategie der britischen Elite zu erkennen. Zum einen ein Gespräch zwischen Ken Jebsen und Willy Wimmer, das einige Interessante Überlegungen zur militärpolitischen Bedeutung des BREXIT aufwirft. Wimmers Ausführungen zu Gibraltar und Nordirland halte ich für falsch, seine Gedanken in seinem eigentlichen Fachgebiet, Militär- und Außenpolitik, halte ich für spekulativ, aber durchaus für historisch begründet und logisch. Die Russland Strategie wäre aber sicher nicht ein ausreichender Grund für einen BREXIT.

The Guerilla Economist kommt in seinem BREXIT UPDATE der Wahrheit in meinen Augen viel näher. In dem sonst sehr oberflächlichen Artikel des Wiener Europa-Experten Dr. Stefan Broczka findet sich ein interessanter Satz: "Es gibt ja auch Untersuchungen, dass die Zahl der britischen EU-Beamten in den letzten Jahren schon massiv abgenommen hat in Brüssel. Das heißt, die englische Funktionselite hat Brüssel schon längst verlassen und jetzt folgt einfach, dass der Rest des Volkes den Schritt auch tut."

Das deckt sich mit meiner Beobachtung, dass die britische Elite seit längerer Zeit das Interesse an der EU verloren hat und sich neu orientieren möchte. Der Guerilla Economist drückt dies mit drastischen Bildern aus. Seine Ansichten finde ich, genauso wie die Wimmers, zu monokausal und zu extrem, aber sehr zwingend. Kurz zusammengefasst meint er: "Das Volk wird durch BREXIT nicht befreit, das Referendum war eine Zirkusveranstaltung, um die Proleten im Sinne der Eliten zu mobilisieren. Die EU ist für die City nicht länger attraktiv, die City hat so viel Geld wie möglich aus der EU geholt, jetzt ist die EU eine leere Hülse. BREXIT ist das Todesurteil für die EU. Die City of London ist der Burgfried in der Festung GB. Durch BREXIT wird die Zugbrücke durch die Bewohner der umliegenden Dörfer hochgezogen. Die EU Banken sind mit notleidenden Krediten und Derivaten vergiftet. London sagt sich von dieser Belastung los, Deutschland bleibt mit der Eurozone alleine zu Hause. Irgendwann geht di e Bombe hoch –die Lunte wurde gerade gezündet. Der Peripherie der EU droht 3. Welt Status."

Diese Analyse wird durch das Leserkommentar der Silberlöwin am 27.06. untermauert. Sie schreibt: "Es ist schwierig auszuhalten, wie noch viele Menschen an die „Theorien und Politik der Institution SNB“ glauben und dabei ihr Vermögen verlieren. Die City of London hat Geld aus der EU abgesogen, so lange es ging – jetzt ist Ende der Fahnenstange; das wissen all die auserkorenen, die „Finanzmarktexperten“ hier auf IP und im ganzen Lande besser als ich – sicher auch eine Verschwörungstheorie."

Die Ausführungen des Guerilla Economist sind sehr schlüssig. Allerdings wird der Einfluss der City of London auch gerne überschätzt. Zu glauben, dass die britischen Staatsbeamten und Regierungsmitglieder alle nur willige Marionetten einer Finanzmafia sind, ist wohl falsch. Meiner Erfahrung nach leiden viele dieser Menschen unter der Situation, in der die Globalisierung und die EU sie und ihre Wähler gebracht haben. Sie wissen ganz genau, dass die EU keine Demokratie ist, sie wissen, dass das Fortbestehen der eigenständigen britischen Rechts- und Verfassungstradition mit einer EU Mitgliedschaft unvereinbar ist und dass, wenn der Ausstieg nicht bald erfolgt, diese Tradition verschüttet sein wird. Es ist einem Boris Johnson, der in Oxford Staatskunde studiert hat, durchaus abzunehmen, dass seine Ablehnung der EU prinzipiell von seiner Loyalität zur britischen Verfassungstradition motiviert wird.

Ein weiterer Hinweis, dass die Eliten die Zustimmung zu einem BREXIT erhalten wollten, mag man in dem Entzug des Wahlrechtes für Briten, die seit mehr als 15 Jahren in der EU wohnhaft sind, sehen. Es gibt keine genau Statistik darüber, wie viele das sind, alleine, man merkt aber die Absicht dahinter.

Dass die Bevölkerung in England und Wales nie mit der EU Mitgliedschaft einverstanden war, war in Großbritannien kein Geheimnis. Die Frage ist, warum hat die politische Elite jetzt ein Referendum angesetzt? Zum einen ist das Ergebnis nicht bindend, zweitens macht es nur Sinn, das Referendum anzusetzen, wenn man ein Ergebnis gegen die EU haben will. Wenn sie den Status Quo erhalten hätten wollen, dann hätten sie ein Referendum unbedingt vermeiden müssen.

Mir war klar, als ich gehört habe, dass Boris Johnson LEAVE befürwortet, dass die politische Elite diese Entscheidung für BREXIT wünscht. Im Gegensatz zu den euroskeptischen Bewegungen auf dem europäischen Festland, die alle von Außenseitern angeführt werden, wird die euroskeptische Bewegung in GB vom Establishment getragen. Folgendes Video ist ein klarer Beweis dafür. Es zeigt Lord David Owen, Atlantiker, Sozialdemokrat, und eine Säule des Außenpolitischen Establishments Großbritanniens und sein Co-Redner Dr. Jeremy Lyons , zuständig für Emerging Markets bei Standard Chartered Bank. Standard Chartered Bank ist einer der wichtigsten Banken in der City of London, die vom Financial Stability Board (FSB) als eine systemically important financial institution (systemisch bedeutsames Finanzinstitut) eingestuft wurden. Die Bank ist nimmt als Eigentümer von Mocatta an der London Gold Fix teil und ist neben Morgan Stanley eine von nur zwei westlichen Banken, die an der neuen ICE Yuan Gold Fix partizipieren und die einzige europäische Bank, die daran partizipiert.

Die Beweise, dass die britische Elite BREXIT wünscht, sind meines Erachtens überwältigend. Zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass die REMAIN Kampagne unvorstellbar schlecht geführt wurde, jedenfalls, wenn man gewinnen wollte. Juncker hat sich nach dem Referendum erstaunt gezeigt, dass Cameron im Frühjahr studenlang einen Sonderstatus mit der EU ausgehandelt und im Wahlkampf kein einziges Mal diese Vereinbarung gelobt oder als guten Kompromiss verkauft hat, sondern eine reine Angstkampagne geführt hat. Cameron hat den Briten permanent eingeredet, sie seien zu schwach und zu arm, um als selbständige Demokratie zu überleben, sie müssten auf ihre Demokratie verzichten, da nur die die EU in Zukunft für Grossbritanniens Wohlstand sorgen könne, aus eigener Kraft sei dies schon jetzt nicht länger möglich. Als dies nicht reichte, hat Finanzminister Osborne den älteren Wählern gedroht, sie im Falle eines BREXIT durch Pensionskürzungen zu bestrafen. Janet Daley in The Telegraph hat sich verwunder gezeigt, dass er seine Landsleute so schlecht einsgechätzt hat und die massive Trotzreaktion nicht vorhergesehen hatte. Nun, vielleicht kennt er seine Landsleute besser als Ms Daley glaubt.

LEAVE war jedenfalls eine Woche vor dem Wahltag 6 Punkte vorne. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt ein Ergebnis 60:40 für den Austritt erwartet.

Der Mord an Jo Cox hat diese Entwicklung gestoppt und zweifellos das Ergebnis beeinflusst. Am Schluss blieb eine hauchdünne Mehrheit übrig. Das politische Establishment hat aber auch hier vorgebaut  und alles getan, um dem Ergebnis möglichst viel Gewicht zu geben. Ein Referendum hat in Großbritannien keine bindende Wirkung, weder für Regierung noch für das Parlament. Trotzdem haben die Politiker erklärt, das Ergebnis wird für das Parlament und für die Regierung bindende Wirkung haben. Zweitens, sie hätten im Vorfeld leicht sagen können, das Ergebnis müsse eindeutig sein. Statt dessen wurde betont, egal wie knapp der Vorsprung, the Winner takes it all.

Im Klartext, die britische Regierung hat bewusst eine Situation herbeigeführt, in der auch eine geringe Zustimmung zu BREXIT diese und jede darauffolgende Regierung zum EU Austritt verpflichten würde. Das für mich offensichtliche Ziel dieses Manövers war, sich vom britischen Volk das Pouvoir für einen EU Austritt zu holen. Das heißt aber nicht, dass diese Option sofort aktiviert werden wird.


2) Was passiert als Nächstes?

Im Parlament besteht momentan keine Mehrheit für einen Austritt. Die pro-BREXIT Politiker haben momentan das Problem, dass die Mehrheit zu klein ist, um ordentlichen Druck auf die Parlamentarier auszuüben. Manche Parlamentarier werden aufmüpfig, Deswegen wird überlegt, ein neues Parlament zu wählen.

Die EU erwartet anscheinend, das GB Artikel 50, der den Austritt in Gang setzt, rasch aktiviert oder ein zweites Referendum ansetzt, um das Ergebnins zu korrigieren. Die EU missversteht die Bedeutung dieses gerade erfolgten Referendums. Das Aktivieren von Artikel 50 ist wie das Ausspielen eines Trumpfes in einem Kartenspiel. Die britische Regierung hat die Möglichkeit, aus der EU auszutreten. Sie muss es nicht tun, und wann, das ist auch ihre Entscheidung.

Wichtig für das britische Establishment ist nach meinem Dafürhalten die Aushebelung des Anwendungsvorranges des EU Rechts. Das EU Recht hat Vorrang in GB aufgrund des European Communities Act 1972. Dieses Gesetz schreibt vor, dass EU Recht Vorrang vor britischem Recht hat, solange in einem britischen Gesetz nicht explizit das Gegenteil behauptet wird. Meine Prognose ist, dass das Parlament dieses Gesetz ändern wird und seine Hoheitsrechte zurückholen wird. Dafür müsste es auch mit diesen Abgeordneten möglich sein, eine Parlamentsmehrheit zu gewinnen. Dann ist das britische Parlament wieder die höchst politische Instanz im Lande und hat als solche hat das letzte Wort darüber, was in Großbritannien Gesetz ist und was nicht. Ob GB pro forma Mitglied der EU bleibt oder nicht, ist aus britischer Sicht weniger wichtig. GE hat 1976 in einer Volksabstimmung für den gemeinsamen Markt gestimmt und die meisten Briten wollen sicherlich im gemeinsamen Markt bleiben. Die Unvereinbarkeit liegt in der Entmachtung des Parlaments, das Außerkraftsetzen des Prinzips des Democratic Accountability (es gibt dafür keine gängige Übersetzung, was auch für sich spricht, also lasse ich den Begriff in Englisch so stehen) und die Aushebelung des Common Law.

Ich gehe davon aus, dass London Schritte setzen wird, um das Parlament zu stärken und die Selbstbestimmungsfähigkeit des Landes wiederherzustellen. Vielleicht wird ein EU Austritt dazu notwendig sein, vielleicht aber auch nicht. Großbritannien wird wahrscheinlich jetzt ganz einfach seinen eigenen Weg gehen und die EU muss überlegen, wie sie darauf reagiert. Solange GB Artikel 50 nicht aktiviert, kann die EU eigentlich gar nichts machen.  

Teil 2