Passiert man also die unsichtbare, international nicht anerkannte Grenze Armeniens über die Straße Richtung Stepanakert erreicht man nach wenigen Kilometern den Grenzkontrollposten der Republik Arzach. Halter eines EUnuchenpasses bekommen, so sie kein Visum in Jerewan besorgt haben, einen Einreiseschein und müssen sich hernach im Außenamt in Stepanakert undramatisch und gegen umgerechtnet 5 Euro das Visum einholen. 

Nach etwas einer guten Stunde Fahrt erreicht man Schuschi von wo aus die Aseris und Tschetschenen monatelang Stepanakert belagerten und beschossen, ehe ihre Positionen erstürmt und sie außer Landes gejagt wurden. Steil bergab erreicht man Stepanakert. Seit meinem letzten Besuch 2014 hat sich vieles weiter zum Besseren verändert.
 
Die Strassen wurden im ganzen Land wesentlich verbessert, Einschüsse und andere Kriegsspuren wurden beseitigt, recht chique Apartment-Blocks, neue Hotels und Restaurants kamen hinzu  und im ehemals zivilen „Funkloch“ Karabach, gibt es nun die Karabach Telekom, wenngleich diese außerhalb der „größeren Orte“ und aufgrund der bergigen Landschaft nur sehr bedingt funktioniert.
 
Das Visum kann man sich optional in den Pass kleben lassen, oder auf ein Beiblatt, falls man sich vor den aserischen Drohungen fürchtet. Aus meiner Sicht ist es eine weitere "Kerbe im Colt“, oder etwas lieblicher formuliert, so wie das tief in die Baumrinde geritzte Herz - ein offenes Bekenntnis zu Armenien und Karabach, eine Trophäe die unbedingt in den Pass gehört. Umso mehr, wenn man die ganze EU-Europarats-Beamten-Diplomaten-Minsker-Gruppen-Mischpoche vor Augen hat, wo  irgendwelche Holländer, Briten und Konsorten meinen darüber kompetent befinden zu können welchen Status Karabach haben darf und wie man sie am besten Baku ans Messer liefert. In so manchem gutem Restaurant zwischen Jerewan und Stepanankert trifft man auf diese saturieren, hochdotierten Abgesandten und so ist es eine kleine Genugtuung für das ganze Fremdschämen, wenn das Hoheitszeichen der Republik Arzach in den EUnuchchenpass geklebt wird!
 
Zudem erhielt ich die Presse-Akkreditierung des Außenamts der Republik Arzach, die sich, wie sich später herausstellen sollte noch bares Geld einsparen wird. 
 
Am nächste Tag treffen wir den Abteilungsleiter für internationale Beziehungen des Außenamtes, Artak Nersissian und den Ombudsman von Arzach, Ruben Melikyan, beide irgendwo im vierten Lebensjahrzehnt, sehr gelassen und mit ausgezeichneten englisch Kenntnissen. Wir beschließen uns auf der Cafe Terrasse des Hotel Armenia niederzulassen und entspannt miteinander zu plaudern, statt zwei klassische Interviews in Folge zu führen. 
 
b.com: Ich möchte wissen warum der neue armenische Premierminister Paschinian fordert, daß Karabach an den Minsker Gesprächen teilnehmen soll, wenn es eigentlich sowieso nicht zu verhandeln gibt, da Paschinian auch sagte, daß Karabach Teil Armeniens sei?
 
A. So wie ich das verstehe meinte Paschinian, daß Karabach Teil der armenischen Heimat sei. Es gibt aber zwei Republiken und daher kann nicht die eine für die andere sprechen und Verantwortung tragen. Daher kann es nur dann eine sinnvolle, bindende, umsetzbare Lösung geben, wenn die Regierung, die von den Leuten hier gewählt wurde, an den Verhandlungen direkt teilnimmt. Nur sie können Karabach repräsentieren. Daher müssen wir auf allen Ebenen der Verhandlungen und Lösungen teilnehmen. Warum nimmt dann Armenien überhaupt an den Verhandlungen teil? Weil die einzige Alternative dazu Krieg ist - aber Armenien hat nicht einmal Arzach anerkannt. Die Armenier können nicht einfach sagen wir sollen jetzt ein Papier mit Aserbaidschan unterschreiben - also müssen wir an den Verhandlungstisch. Das ist auch kein reines Wunschdenken, sondern normal. 
 
b.com: Was ist aber jetzt wirklich der Sinn von Verhandlungen? Armenien fordert die Selbstbestimmung von Karabach und Baku pocht auf die Souveränität über Karabach in welcher Form auch immer - etwas was sie doch sicher niemals akzeptieren würden?
 
A: Natürlich nicht! Verhandlungen sind dennoch nicht sinnlos weil es zum Beispiel um die Einhaltung der Waffenruhe an der Demarkationslinie geht. Die Positionen sind sehr verschieden und es gibt keinen Überschneidungspunkt zwischen der armenischen und aserischen Position. Aber bezüglich Interessen  könnte es Punkte geben, nicht nur um die Ruhe an der Kontaktlinie um einen Kriegsausbruch zu verhindern. Denn wenn es jederzeit Krieg gibt kommen wir gar nicht weiter. Zum Beispiel haben wir und Armenien auch vorgeschlagen die Scharfschützen zurückzuziehen, dies lehnte aber Aserbaidschan ab.  2016 nach den kriegerischen Auseinandersetzungen kamen die Präsidenten von Armenien und Aserbaidschan darüber überein eine Art von Krisenzentrum einzurichten, über das bei Schusswechsel kommuniziert wird. DAs sind Beispiele über die wir verhandeln können.
 
b.com: War das nicht auf Druck Russlands?
 
A: Nein, das war die Haltung aller Unterhändler!
 
b.com: Aber als der Konflikt ausbrach gab es doch starke Worte Lawarows den Konflikt einzustellen und zur Waffenruhe zurückzukehren?! Man hatte den Eindruck, daß Lawrow massiv auf den aserischen Präsidenten Aliyew einwirkte die Eskalation zu stoppen?
 
A: Keinesfalls! Als die Aseris merkten, daß sich ihr Blitzkrieg in einen Mißerfolg auflöst und sie ahnten, bzw. gewisse Anhaltspunkte hatten, daß es zu einer massiven Gegenoffensive Karabachs kommt, wie in 1994, riefen sie Russland um Hilfe - zuerst mit dem Angebot einer einseitigen Waffenruhe - diese lehnten wir aber ab! Dann wendeten sie sich wieder an Russland baten um deren Hilfe um unsere Offensive zu verhindern. 
 
b.com: Wer kontrolliert die eroberten  „aserischen" Gebiete, die Karabach direkt mit Armenien verbinden? 
 
A: Karabach. Der Kontrollposten Arzachs ist nicht ident mit dem Grenzverlauf, da es eigentlich keine strenge Grenze zu Armenien gibt. Es gibt auch keine Dörfer in dieser Zone. 
 
b.com: Das ist doch ein starkes Stück, daß der neue armenische Premier wenige Stunden nach seiner Amtseinführung nach Stepanakert flog: Ist es sicher zu fliegen?
 
A: Das ist eine andere Geschichte - er kam  per Heilikopter, Entgegen Internationalem Recht drohen die Aseris jedes Zivilflugzeug abzuschiessen und niemand regt sich in der internationalen Staatengemeinschaft darüber auf.
 
b.com: Baku verlangt, daß wenn die Vertreter Karabachs an den Verhandlungen teilnehmen, auch seine „Vertriebenen aus Karabach"  an den Verhandlungen teilnehmen müßten. 
 
A: Nagorno Karabach wurde am Gipfeltreffen in Budapest als Konfliktpartei anerkannt und war auch schon Teil der Verhandlungen. Im Schlußakt ist die NKR festgelegt als Verhandlungsteilnehmer, kein Wort jedoch von irgendeiner, sogenannten aserischen Gemeinde. Wer soll das überhaupt sein? Flüchtlinge? Die sind Staatsbürger Aserbaidschans und werden sowieso von Aserbaidschan vertreten und wenn wir über Flüchtlinge sprechen, dann sprechen wir gleich über alle Flüchtlinge! Wir haben Flüchtlinge in Karabach, die aus Aserbaidschan vertrieben wurden und im Gegensatz zu den aserischen Flüchtlingen keinerlei internationale Hilfe erhalten. Insgesamt wurden etwa 400.000 Armenier aus Aserbaidschan vertrieben, etwa 30.000 davon leben in Karabach, viele in Russland, Armenien, den USA und der Rest über die ganze Welt verteilt. Es gibt auch über Karabach hinaus armenische Gebiete in Aserbaidschan, die wir beanspruchen.
 
b.com: Was kann dann am Ende der Verhandlungen stehen? Irgendeine Art von regionaler Souveränität unter Baku?
 
A: Nein! Niemals! Baku muß sich mit der Realität abfinden! Das wird niemals diskutiert.
 
b.com: Ist es also langfristig realistischer unabhängig zu bleiben, oder Teil der Republik Armenien zu werden?
 
A: Das entscheiden die Leute, aber das ist kein Thema. Wir müssen jetzt einen Genozid verhindern - warum sollen wir so etwas jetzt diskutieren? Einige wollen vielleicht zu Armenien gehören mit einer Art Sonderstatut, aber das hat keine Priorität. Wir haben uns für die Unabhängigkeit entschieden.
 
b.com: Und was wollen die Armenier? Mehrheitlich Karabach als Teil Arneniens?
 
A: Ich glaube ja. 
 
b.com: Gibt es also nicht auch solche Armenier, die Karabach als wirtschaftliche Last empfinden, so wie einige Russen gegenüber Donezk?
 
A: Die Situation ist nicht vergleichbar - die Bewegung geht auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück und auf inner-sowjetische Konflikte. Wir kämpfen auch nicht um imperiale Anliegen, sondern nur um unsere Selbstbestimmung.
 
b.com: Hat das gute Klima zwischen Putin und Erdogan und das entspanntere Verhältnis zu Aserbaidschan Auswirkungen auf das Klima um Karabach?
 
A: Wir können uns auf irgendwelche Positionen nicht verlassen. Die Türkei hat immer Aserbaidschan unterstützt, auch in der Aggression von 2016 gegen Karabach. Wir müssen uns auf die aggressive Rolle Aserbaidschans konzentrieren. Was soll die Türkei schon bringen? Sicher werden sie nicht Aserbaidschan in Zaum halten. Die Türkei macht auch die Beziehungen zu Armenien immer von Karabach abhängig.
 
b.com: Und ergab sich in den Reihen Trumps eine positive Veränderung für Karabach?
 
A: Vergessen wir nicht, daß es 3 Vermittlerstaaten gibt - die USA, Frankreich und Russland. Sie kommen immer mit einer einheitlichen Position zu Konfliktlösung. Wir arbeiten mit allen. Unser Besuch neulich in den USA auch mit inoffiziellen Treffen dient der Aufklärung im Kongreß um Stimmung für unsere Anliegen zu machen.  Acht Bundesstaaten der USA haben übrigens die Unabhängigkeit Arzachs schon anerkannt. Es gibt enorm lebhafte Kontakte und Aktionen der Diaspora, deren Unterstützung für Karabach in Relation sogar noch viel höher ist als für Armenien.
 
Wir haben alleine 3 Universitäten in Stepanakert mit ausländischer Hilfe und ausgezeichneten akademischen Austausch. Wir haben hier nun ein hochmodernes Krankenhaus mit allen Abteilungen. Unsere Leute sind bestens ausgebildet und bekommen Stipendien, Praktika und Forschungsaufenthalte rund um die Welt. Die Wirtschaft und die Lebensqualität steigt an in Karabach. Wir stellen fest, daß die Unzufriedenheit hier sehr gering ist, sogar mit der Regierung. Jeder kennt den anderen und so ist das mögliche Fehlverhalten nicht sehr weit verbreitet.
 
Neben Bergbau wird die Landwirtschaft weiter vorangetrieben. Sie ist noch immer mit Abstand die wichtigste Lebensgrundlage der Bevölkerung von Karabach.
 
b.com: Bedeutet das Blldungs- und Diaspora Angebot hinsichtllich Auslandsaufenthalte nicht auch ein großes Risiko bezüglich Abwanderung?
 
A: Ja und nein - einige bleiben im Ausland, aber für die meisten bildet es die Perspektive hier zu bleiben. 
 
Gleich nach dem Gespräch verlassen wir Stepanakert mit dem Auto. Wir fahren gegen Norden nach Vank. Dieser Ort liegt am Fuße des großartigen, 1216 erbauten Klosters Gandsassar  so etwas wie das „National-Heiligtum“, die fast wichtigste Pilgerstätte aller Armenier.

Das Leben am Land ist schon recht rau und während der Menschenschlag in Jerewan eher optisch an Perser erinnert, man an die vielen weltberühmten armenischen Komponisten, Schachspieler, Musiker und Sänger denkt, sieht man hier „Berg-Armenier“ mit furchigen Gesichtern, festen Waden und gestauchtem Rumpf, so eine Art orientalische Version der Schweizer Appenzeller, an deren Türstock sich selbst der kurz geratene Mitteleuropäer leicht den Schädel anstößt. Aber gleich den Eidgenossen sind sie stolz, freiheitsliebend und wehrhaft. Ein Menschenschlag von großer Gastfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die dem Reisenden allgegenwärtig entgegengebracht wird.
 
Berg Karabach hat noch echte, unberührte Natur, Urwälder, kristallklare Flüsse und eine großartige Luftqualität. Ein Ort der Entschleunigung und Entspannung. So verweilen wir hier 3 Tage ehe wir weiter über den Norden und das ebenfalls eindrucksvolle Kloster von Dadivank auf den Sotk Pass zusteuern.
 
Eine unglaublich malerische, von der Diaspora finanzierte nagelneue Hochgebirgsstrasse führt zurück in die Republik Armenien, wo bereits in Sichtweite der offenen Ebene der größte See des Kaukasus, der kristallklare Sewan See einen fast meeresartigen Kontrast zu Berg Karabach liefert.
 
Dies verleitete auch  aufgrund der Vorfreude zu einer recht heftigen Tempoüberschreitung seitens des Autors. Die Polizeistreife stellte 127 statt der erlaubten 70 Kmh fest, womit auf einer Autobahn ähnlichen Strasse nicht zu rechnen war. Dies ergab laut Tabelle rund 200 Euro Strafe. Nach Abgabe von des Ö-EUnuchenpasses reduzierte sich die Strafe sofort auf rund 40 Euro. Dank ein paar russischer Worte zwei Minuten später auf 20 Euro und ganz ohne Jammern beim Anblick des b.com Arzach-Presse-Ausweises schließlich auf rund 9 Euro! Und das Ganze übrigens gegen einen sauber geschriebenen Strafzettel und nicht wie in so manchem "Shithole Country" in der Gegend Albaniens in die Bierkassa der Polizeistreife.
 
Wie kann man dann beim Dinner am Sewan-See bei Maulbeerschnaps und gutem Wein anders als satt und rundum zufrieden die Reise beschließen?!