Ein beziehungsgeschichtlicher Überblick

Im Zusammenhang mit der zunehmenden Militarisierung Osteuropas aufgrund des Bürgerkriegskonfliktes in der Ukraine war in letzter Zeit in vielen westlichen Medien sowie in politischen Verlautbarungen aus den USA und einiger europäischer Nato-Staaten immer wieder zu hören, dass die baltischen Völker einen russischen Einmarsch in ihre Länder befürchten. Argumentativ untermauert wurde diese Behauptung mit der historischen Erinnerung der Esten, Letten und Litauer, als das Baltikum für längere Zeiträume Teil des Russischen Reiches war und als die baltischen Länder, nach verhältnismäßig kurzer Zeit staatlicher Souveränität in der Zwischenkriegszeit (1918 bis 1940), im Juni 1940 von der Sowjetunion annektiert wurden.

Der unreflektierte historische Hintergrund dieser Art der Argumentation, die rein auf das datumsfaktische aufbaut, wird dann zwar im Großen und Ganzen richtig, die Schlussfolgerung allerdings, dass daraus automatisch auch eine russische Gefahr für die Gegenwart drohe und diese von den Völkern dort auch so gesehen werde, bleibt aber zumindest differenzierungs-und diskussionswürdig. Dies nicht nur weil die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen seit dem 29.März 2004 zur Nato gehören und ein Angriff auf diese Länder den Bündnisfall nach § 5 des Nato- Vertrages bedeuten würde, sondern auch deswegen, weil mit dieser Argumentationsart der Eindruck erweckt wird, als dürfe Russland dort möglichst überhaupt keine Interessen haben.


Doch Russland und die baltischen Staaten sind Nachbarn. Estland und Lettland gegenüber Russland vom Osten her und Litauen, durch das Königsberger Gebiet, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Russland kam, vom Westen her und genau diese geographische Tatsache beinhaltet nun einmal eo ipso gegenseitige Interessen in den Bereichen Geschichte und Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Sicherheit.

Historisch ist das, was wir heute Russland nennen, bereits vor etwa 1000 Jahren im Norden des Baltikums präsent. Zuerst als Rus und ab dem 12.Jahrhundert als Republik Nowgorod , die im Jahr 1136 die Unabhängigkeit von Kiew erreichte. Valentin Gitermann , Schweizer Historiker ukrainisch-jüdischer Herkunft, schreibt in seiner dreibändigen „Geschichte Russlands“ ( Europäische Verlagsanstalt Frankf./M.,1965, Bd.1, S.106), dass …“die Bevölkerung Nowgorods aus einer Verschmelzung slavischer, litauischer und warjagischer Elemente hervorgegangen…“ ist. Gitermann zufolge begannen also gemeinsame - und nicht gegenseitige - „russisch-baltische“ Interessen bereits vor über 1000 Jahren, als in Nowgorod, genannt auch „Gospodin Welikij Novgorod“, 989 n.Chr. die Sophien-Kathedrale gebaut wurde.

Geographisch fand die Bojaren-und Kaufleute- Republik westlich eine Ausdehnung bis in estnische Gebiete hinein, umschloss das ganze heutige an der Ostsee gelegene Petersburger Gebiet und zog sich im Norden weit nach Finnland und im Nordosten nach Karelien hin.

Die strategische Lage und die im westlichen Ostseeraum (Hanse) sehr gefragten Exportgüter wie Pelze, Bienenwachs und Honig, Leinen und Hanf, Pech und Teer, sowie Walroß- und Fischtran, der im Weissen Meer gewonnen wurde, weckten frühzeitig Eroberungsgelüste seitens der Schweden sowie der Dänen.

Vor dem Hintergrund der Christianisierung des Baltikums kam seit dem 13.Jahrhundert auch der Deutschen Orden, beziehungsweise des Schwertbrüderorden, der sich über Riga, Dorpat und die Insel Ösel Livlands bemächtigte, in unmittelbare Nähe zu Nowgorod.

Die nowgorodschen Beziehungen zur lübschen Hanse waren gut und die Hanse führte wegen des gewinnträchtigen Handels seit dem 13. Jahrhundert in Nowgorod ein bedeutendes Handelskontor.

Mehr als 300 Jahre lang behauptete sich, trotz aller Anfeindungen und kriegerischer Auseinandersetzungen, die Republik Nowgorod auf erstaunlich hohem kulturellen und wirtschaftlichen Niveau. Es hatte so bekannte Führer, wie Alexander Newski hervorgebracht, der 1240 die von Papst Gregor IX. unterstützten Schweden an der Newa-Mündung und 1242 auf dem vereisten Peipussee die deutschen Ordensritter besiegte.

Während die Kiewer Rus, auch durch den Einfall der Mongolen, mehr und mehr zerfiel und einzelne ihrer Fürstentümer gegenüber den Chanen tributpflichtig wurden, wuchs seit dem 14. Jahrhundert der Einfluss des Großfürstentums Litauen auf einige andere Rus-Fürstentümer und besonders auch auf die Republik Nowgorod.

Die bedeutenden Expansionserfolge des in seiner Führung nichtslawischen Großfürstentums Litauen im 14. und noch im 15. Jahrhundert in verschiedenen Rus-Ländern und der langsam nachlassende Druck des mongolischen Herrschaftssystems der Goldenen Horde liess im Laufe des 15. Jahrhunderts bis Anfang des 16. Jahrhunderts das Großfürstentum Moskau zum neuen Sammlungskern der Rus-Länder werden. Hatte Ende des 13.Jahrhunderts das Moskauer Fürstentum eine Größe von lediglich etwa zehntausend Quadratkilometer, also etwa die heutige Größe Kärntens, so wuchs es bis zum Tode Iwans III. 1505 auf 1,2 Millionen Quadratkilometer an.

Iwan III, der „Zar von ganz Russland“ sein wollte, war es allerdings auch, der die bis dahin unabhängige Republik Nowgorod 1478 unterwarf, die man aufgrund ihrer geografischen Ausdehnung und ihren Außenbeziehungen getrost als „rus-baltische“ Republik bezeichnen könnte.

Die Unterwerfung dieser Republik hatte allerdings eine fatale Auswirkung auf die Handelsbeziehungen mit Westeuropa. Das übrige Russland unter der Führung Moskaus musste nun über einen längeren Zeitraum neben den finanziellen Einbussen aus dem Handel auch vieler begehrter westeuropäischer Erzeugnisse entbehren. Nur allmählich entwickelten sich wieder Handelsbeziehungen mit dem Westen, die aber hinsichtlich einer Kontinuität und Stabilität nie an das Niveau Nowgorods heranreichten. Und auch jene langsam sich wieder entwickelnden Handelswege gingen überwiegend über die baltischen Orte Narwa, Dorpat, Riga und Reval.

Die Esten und Letten, die in vorgeschichtlicher Zeit freie Völker waren, entwickelten keine eigene Staatlichkeit und gerieten im Laufe ihrer Geschichte seit dem 13. Jahrhundert wechselweise unter die Herrschaft Dänemarks, Schwedens, Russlands, des Deutschen Ordens und zum Teil Litauen-Polens.

Estland und Teile Lettlands (das südliche Livland ) wurden 1710 unter Peter I. (der Große) russisch und ab 1795, mit der letzten Teilung Polen-Litauens, auch der kurländische und lettgallische Teil Lettlands, der vorher zu Litauen-Polen gehörte. Die russische Herrschaft über die Gebiete Estland und Lettland, die im Russischen Reich als Ostseegouvernements geführt wurden, hielt faktisch bis 1915 an, also ganze 200 Jahre. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges verhielten sich Esten und Letten überwiegend loyal gegenüber dem Zarenreich und dachten bis dahin nicht an die Errichtung selbstständiger Staaten sondern strebten eher eine ethnische Autonomie innerhalb des Russischen Reiches an. Politische Unabhängigkeitskonzeptionen kamen erst nach der Besetzung der Gebiete durch das Deutsche Kaiserreich auf. So veröffentlichte einer der lettischen Nationalführer, Margers Skujenieks, 1916 seine Arbeit über „Die nationale Frage in Lettland“. Nationale Erweckungsbewegungen im kulturellen Bereich gab es seitens der Esten und Letten aber seit Mitte des 19.Jahrhunderts.

Neben den Esten und Letten gehörte, mit dem Ausgang des letzten, des „Großen Nordischen Krieges“ (1700-1721) zwischen den Kriegsparteien der Triple-Allianz Russland, der Personalunion Polen-Litauen-Sachsen unter August dem Starken und der dänisch-norwegischen Personalunion gegen das Schwedische Reich, wobei es wiederholt um die Vorherrschaft im Ostseeraum ging, nunmehr auch die bedeutende und führende deutschbaltische Schicht in den ehemaligen baltischen Gebieten des Deutschen Ordens zum Herrschaftsgebiet des Russischen Reiches. Die Deutschbalten waren bald der russischen Reichsidee und dem Zaren treu ergeben. In den Ostseegouvernements behielten sie eine wesentliche Eigenständigkeit, beispielsweise in der städtischen Selbstverwaltung und in den deutschbaltischen Ritterschaften.

Ihr Einfluss in der Politik und Diplomatie sowie im Militärwesen des Russischen Reiches war enorm. So betrug ihr Anteil im Diplomatischen Dienst im Jahr 1880 über 50%! Die Deutschbalten Robert Graf Nesselrode und Baron Budberg waren zaristische Außenminister und Baron Stackelberg russischer Gesandter auf dem Wiener Kongress 1815. Russische Generäle waren z.B. Graf Wittgenstein, Graf Ingelström, Friedrich Graf Rüdiger, Jacob von Hoyningen-Huene. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war noch jeder fünfte General der russischen Armee Deutscher.

Bemerkenswert bleibt, dass die politischen Loyalitäten in den Ostseegouvernements zum Reich trotz der Unterschiede in Schrift, Sprache und Religion – in den Gouvernements benutzte man vorwiegend das lateinische Alphabet neben dem kyrillischen und konfessionsmäßig blieb man evangelisch - bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges weitgehend aufrecht erhalten blieben. Die Russifizierungsmaßnahmen , die unter dem Zaren Alexander III. in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden, wirkten sich in den Beziehungen zwischen den autochtonen Esten und Letten sowie den Deutschbalten gegenüber den Russen, langfristig betrachtet, allerdings eher negativ aus.

War der livländische und estnische Part des Baltikums seit 1710 russisch, so geriet der größte Teil des ethnographischen Litauen, das seit Jahrhunderten mit Polen in einer Union stand, erst im Jahr 1795, mit der endgültigen Liquidierung ihrer einstmals bedeutenden Adelsrepublik aufgrund der 3. Teilung Polen-Litauens durch die drei Mächte Preussen, Russland und Österreich, unter russische Herrschaft.

Die erste Teilung fand bereits 1772 statt, mit riesigen Landgewinnen für Russland im Osten und Südosten ( Litauen verlor Witebsk, Polozk, Minsk, Schitomir, Braclaw, Targowica).

Polen verlor an Österreich Belz, Nowy Sacz, Przemysl, Lemberg, Tarnopol und an Preussen musste es Danzig, Marienburg, Kulm, Thorn, Gnesen, Plock, Posen und Kalisch abtreten. 1793 gab es eine weitere Teilung, die Österreich zum Beispiel Krakau und Lublin einbrachte.

1795 war Polen-Litauen am Ende und existierte staatlich nicht mehr.

Der Grund für den Untergang dieses in der Geschichte Osteuropas einst so bedeutenden Reiches ist vielfältig und kann hier nicht im Einzelnen behandelt werden. Russland als einzig Schuldigen hinzustellen, wie es dennoch in einigen überbordenden nationalistischen Kreisen Polens und Litauens immer wieder getan wird, ist sicherlich überzogen und wird von der professionellen Geschichtswissenschaft in dieser Form auch nicht geteilt.

Der staatliche Unterganges ging „optisch“ wahrlich rasant vor sich, wenn man bedenkt, welche abendländische Rolle 1683 Polen-Litauen noch bei der Entsetzung Wiens von den Türken spielte, denn gut 100 Jahre danach war die adelige „Republik der Zwei Nationen“ nicht mehr existent.

Die ersten Ursachen dafür lagen, nach dem Aussterben der litauischen Jagiellonendynastie 1572, im zunehmenden ausländischen Einfluss einer Wahlmonarchie. So wählte man 1587 den schwedischen katholischen Thronerben Sigismund aus dem Hause Wasa zum polnischen König und Großfürsten von Litauen, der dann aber im protestantischen Schweden als schwedischer König abgesetzt wurde, wogegen er sich wehrte und was zu einem Hineinziehen in die verheerenden und für die polnisch-litauische Union äußerst verlustreichen verschiedenen Nordischen Kriegen führte, die sich, mit kurzen Pausen, über einen Zeitraum von über 170 Jahren (!) hinzogen.

Weitere Ursachen sind in der schwach gehaltenen Königsmacht zu suchen, im vordergründigen Vorhandensein verschiedener stark divergierender Machtgruppen, nicht zuletzt auch aufgrund unterschiedlicher nationaler ( Litauer, Ruthenen, Polen) und religiöser ( Katholiken, Unierte, Orthodoxe) Hintergründe.

Die meisten dieser Ursachen waren „hausgemacht“, wurden in ihrer langfristigen Wirkweise unterschätzt, zeitgemäße reformerische Anpassungen an die veränderte Umwelt wurden unterlassen. Man bestand am liebsten auf die „goldenen Freiheiten“ des Adels, in welcher ein jeder Sejmabgeordnete das Recht des Liberum Veto besaß. Als Folge wurde die Union von innen immer schwächer und von außen immer stärker beeinflusst , so dass die von der französischen Aufklärung inspirierte Maiverfassung vom 3.Mai 1791 viel zu spät kam und von den konservativen Ländern Preußen, Österreich und Russland natürlich im Spiegel der zur gleichen Zeit ausgebrochenen Französischen Revolution gesehen wurde. Sie beschlossen die neuen Unberechenbarkeiten dieser Entwicklung in ihrem Sinne zu steuern und so kam es dann schnell zu den beiden letzten Teilungen Litauen-Polens 1792 und 1795. Europa war durch die Französische Revolution so sehr in Atem gehalten, dass es die letzten Teilungen, bis auf wenige warnende Stimmen, mehr oder weniger stillschweigend hinnahm.

Das, was man schon lange Völkerrecht nannte, 1625 schrieb z.B. Hugo Grotius sein bekanntes Werk „De jure belli ac pacis“, und mit dem Westfälischen Frieden von 1648 hat sich ein Völkerrecht in Europa sozusagen fest etabliert, war mit den Teilungen Polen-Litauens nun wirklich mit Füßen getreten, trotz des sehr großen Anteils eigener Schuld an seinen Staatsschwächen. Der Zeitgenosse Edmund Burke apostrophierte bereits 1772 die erste Teilung als „the first very great breach in the political system of Europe“ und der ehemalige preußische Außenminister Graf Ewald Friedrich von Hertzberg, der sich in seiner Amtszeit von 1788 bis 1791 für einen reformierten aber selbstständigen polnisch-litauischen Staat einsetzte und wegen des Nichterreichen dieses Zieles seinen Dienst quittierte, mahnte 1793 schriftlich: „Überhaupt aber ist das Recht, durch welches die drei Mächte sich Polen teilen, so verhasst und Abscheu erregend, dass es ein ewiger Schandfleck in dem Ruhm der drei Regenten sein wird: Es verdunkelt ihren Namen in der Geschichte, und ich begreife nicht, wie sich diese Haltung mit ihrem Gewissen und ihrer Religiösität verträgt.“

Eine andere Deutsche, regierend und mächtig auf dem Zarenthron sitzend, Katharina die Große,
die von russischer Seite verantwortlich für die Teilungen und größte Gewinnerin derselben war, sah dies offensichtlich anders, als sie ausrief: „Entrissenes habe ich zurückgebracht“. Dies mag noch in gewisser Weise für die ruthenischen, bzw. rus-ländischen Teile des Großfürstentums Litauen anwendbar sein, aber sicher nicht für die Kerngebiete Litauens, die mit einverleibt wurden. Dasselbe gilt für Polen. Ihr Nachfahre und Enkel Zar Alexander I. allerdings spürte die Mißtöne der Teilungen deutlich und suchte die zerschlagene Union im russischen Reichsverband neu zu etablieren. So wurde Adam Czartoryski der einem litauischen Adelshaus entstammt, das sich von Konstantin Algirdowitsch Fürst von Tschortoryjsk, Sohn des Großfürsten Algirdas, ableitet, von Kaiser Alexander 1804 zu seinem Aussenminister ernannt. Neben Czartoryski entwickelte ein anderer Vertreter eines litauischen Adelshauses, Mykolas Kleofas Oginskis Konzeptionen zur Wiedererrichtung des Großfürstentums am Beispiel Finnlands, die von Alexander I. wohlwollend in Betracht gezogen wurden.

Doch im Dezember desselben Jahres 1804 liess sich Napoleon zum Kaiser krönen und die Spannungen in Europa nahmen weiter zu. Die Projekte einer „Wiedererstehung der Union beziehungsweise des Großfürstentums im russischen Reichsverband“ mussten vorerst auf Eis gelegt werden. Russland, Österreich, England und das Osmanische Reich schlossen sich zur sog. „dritten Koalition“ gegenüber Frankreich zusammen, die allerdings 1805 in der Schlacht von Austerlitz kläglich versagte. 1807 verbündeten sich Russen und Preussen gegen Napoleon und rangen bei Preussisch-Eylau den Franzosen ein Remis ab. Bald danach gelang es Napoleon mit dem russischen Kaiser Alexander den Tilsiter Frieden (Juli 1807) zu schliessen, der zwar vorläufig das preussisch-russische Bündnis obsolet werden liess, aber den Angriffskrieg Frankreichs 1812 gegen das russische Kaiserreich letztlich doch nicht verhindern konnte.

Napoleons Russland-Feldzug begann am 12. Juni 1812 auf litauischem Boden und fand dort ( und in Polen, aber wir konzentrieren uns hier wegen des Themas vorwiegend auf Litauen) schnell Kampfgefährten, die seine etwa 600.000 Mann starke Armee verstärkten. Unter diesen Freiwilligen waren viele kleinadlige Studenten und Offiziere der ehemaligen großfürstlichen litauischen Armee, die die Hoffnung auf ein Wiedererstehen des Großfürstentums hegten. Dennoch verhielt sich der Großteil der Bevölkerung eher indifferent, ermüdet von den Jahren der vergangenen und jetzt wieder neu entbrannten Wirren. Ein einflussreicher, wenn auch zahlenmäßig nicht großer Teil, stand weiterhin auf zaristischer Seite, darunter viele vom Hochadel wie Czartoryski und Oginskis.

Die Niederlage Napoleons im Russlandfeldzug 1812 besiegelte für Litauen endgültig, so wie 1710 schon für Estland und Lettland, ein Aufgehen im Russischen Reich. Ein kleiner, südwestlicher, Teil Litauens verblieb als Ergebnis des Wiener Kongresses 1815 im dort gegründeten Kongresspolen, welches allerdings ebenfalls Teil des Russischen Reiches war.

1831 und 1863 versuchten Aufständische in Litauen und Polen die Verhältnisse zu ändern, doch beide bewaffnete Erhebungen waren erfolglos. Diese Aufstände fanden, aufgrund der völkerrechtlichen Bedenken der Teilungen Polen-Litauens, in bürgerlich-demokratischen Kreisen Westeuropas zum Teil lebhafte proklamatorische Unterstützung. Doch die niedergeschlagenen Erhebungen führten nur zu einer Verschärfung des russischen Regimes. So wurde 1840 die bis dahin gültige 3. Fassung des Litauischen Statuts für weite Gebiete des ehemaligen Großfürstentums, das 1468 vom Großfürsten Kazimieras Jogailaitis eingeführt wurde und für weite Gebiete des ehemaligen Großfürstentums weiterhin Gültigkeit besass, abgeschafft . 1864 wurde gar ein Verbot erlassen die litauische Sprache in lateinischen Lettern zu drucken, ein Verbot, das bis 1905 galt. Die Aufstände spielten somit eine Rolle bei der Einsetzung von Russifizierungsmaßnahmen, unter denen dann später auch die nicht an diesen Erhebungen beteiligten Deutschbalten, Letten und Esten zu leiden hatten.

Die russische Herrschaft in den Ostseegouvernements und in Litauen hielt bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs an. Bereits im Kriegsjahr 1915 konnte Deutschland in Litauen und Lettland das militärisch verwaltete Gebiet „Ober-Ost“ etablieren und Estland kam im September 1917 unter deutsche Kontrolle. Russlands Krieg gegen Deutschland war in eine hoffnungslose Lage geraten. Bereits im Februar 1917 ereignete sich die erste Etappe des Revolutionsjahres in Russland: Kerenski wurde Ministerpräsident und im März wurde Zar Nikolaus II. zur Abdankung gezwungen und 7 Monate später fand die bolschewistische Oktoberrevolution statt.

Das Russische Kaiserreich hörte auf zu existieren.

Mit dem Frieden von Brest-Litowsk zwischen den Mittelmächten, in der Hauptsache das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn, und dem bolschewistischen Russland am 3.März 1918, schied Russland offiziell als Kriegsteilnehmer aus, nachdem bereits am 15. Dezember 1917 an der ganzen Ostfront der Waffenstillstand in Kraft gesetzt wurde. Der Bevollmächtigte der deutschen Obersten Heeresleitung (OHL) General Max Hoffmann forderte während der Verhandlungen in Brest-Litowsk am 18.Januar 1918 unmissverständlich die Anerkennung der Unabhängigkeit Estlands Lettlands und Litauens von Russland. Das deutsche Ziel war offenkundig im Baltikum von Deutschland abhängige Pufferstaaten zu etablieren. Trotzki bat um eine Verhandlungspause und kehrte erst am 30. Januar an den Verhandlungstisch zurück. Eine Einigung kam vorerst nicht zustande. Am 16. Februar teilte die OHL mit, dass sie die Waffenstillstandsvereinbarung mit dem 17. Februar als abgelaufen betrachte und begann dann auch sofort und erfolgreich mit neuen Kampfhandlungen. Lenin befahl der sowjetischen Delegation eine Änderung im Verhandlungsstil mit den Mittelmächten und am 3. März 1918 wurde der Friedensvertrag in Brest-Litowsk unterzeichnet, mit dem Russland die Unabhängigkeit von Finnland, Lettland, Litauen der Ukraine und Polen anerkannte, sowie der weiteren Besetzung Estlands und Weissrutheniens (Weissrussland) durch deutsche Truppen zustimmte.

Trotz des Sieges an der Ostfront verloren die Mittelmächte den Ersten Weltkrieg und die beiden Kaiserreiche Deutschland und Österreich brachen zusammen, wie ein Jahr zuvor das russische Kaiserreich. Die Nachkriegsordnung, beinflusst durch die verschiedenen Pariser Vorortsverträge, begann.

1918 ist als Beginn der Entstehung der baltischen Staaten im heutigen Sinne zu verstehen.

Die 1917 gegründete Sowjetrepublik unterschied sich in der politischen Verfassung, in der Wirtschaftsform und besonders im russischen Selbstverständnis extrem vom Russischen Reich. In der Frühzeit der Sowjetunion, 1924, schrieb der Zeitgenosse Werner Sombart, auf den sich selbst Lenin in früheren diversen Schriften berief, …“dass aller proletarische Sozialismus, dass also der Bolschewismus, der nichts ist als die Inkarnation der Ideen des proletarischen, das heißt also marxistischen Sozialismus, seinem inneren Wesen nach unrussisch, ja, antirussisch ist.“ In der sowjetischen Führung hatten über lange Zeiträume Nichtrussen eindeutig die Mehrheit. Sombart, neben Max Weber einer der weltweit anerkanntesten Soziologen seiner Zeit, kannte Russland durch verschiedene Reisen. Seine Publikationen wurden alsbald in der Sowjetunion verboten.

Die Beziehungen dieser neuartigen sowjetischen Staatsform beziehungsweise der 1922 gegründeten Sowjetunion zu den baltischen Staaten, gestalteten sich alles andere als reibungslos. Bereits am 13. November 1918 annullierte die Sowjetregierung den Brester Frieden und griff estnische Einheiten in Narva an, zu Weihnachten fiel Dorpat in bolschewistische Hände. Am 2. Januar 1919 musste die lettische Hauptstadt Riga aufgegeben werden und über das lettische Kurland drangen die sowjetischen Truppen bis nach Nordlitauen vor, die erst vor Kedainiai zum Stehen gebracht wurde. Doch vom Osten her konnte die 2. sowjetische Pleskauer Division am 6. Januar dennoch in’s litauische Wilna einmarschieren, so dass die litauische Regierung sich nach Kaunas (Kowno) zurückziehen musste. Der Widerstand der kurz vorher aufgebauten regulären Armeen in Estland und Litauen gegen die sowjetischen Eindringlinge war aber letztlich erfolgreich und zum ersten Jahrestag der estnischen Unabhängigkeitserklärung am 24. Februar 1919 war Estland komplett freigekämpft. In Litauen zogen sich die Kämpfe noch bis in den Sommer 1919 hin, doch war auch dann das Land von sowjetischen Truppen befreit.

Bürgerliche lettische Kreise, die den Lettischen Volksrat bildeten, erklärten Lettland am 18.November für unabhängig und wählten Karlis Ulmanis zum Ministerpräsidenten. Doch seine Regierung fand in der breiten lettischen Bevölkerung, in der auch sozialistische und rätedemokratische Vorstellungen eine wichtige Rolle spielten, nicht die gewünschte Unterstützung und die zahlenmäßig nicht unbedeutenden jüdischen, deutschbaltischen und russischen Bevölkerungskreise lehnten seine Regierung gleich ganz ab. Schon im Jahr 1917 verbündeten sich die ungefähr 35.000 Mann starken Roten Lettischen Schützen, die vorwiegend aus gebürtigen Letten bestanden, mit den Bolschewiki Sowjetrusslands. Ihr Führer, Jakums Vacietis, wurde 1919 von Lenin gar zum ersten Oberbefehlshaber der Roten Armee ernannt. Er gehörte auch zur sowjetischen Verhandlungsdelegation im Februar 1918 in Brest-Litowsk. Im Dezember kam es zur Ausrufung einer sowjetlettischen Räterepublik. In der Folge entwickelte sich eine bürgerkriegsähnliche Situation, an der nationallettische, deutschbaltische, die nationalrussische Bermondt-Awaloff-Armee, deutsche Freikorps, estnische, litauische und polnische Armeeeinheiten teilnahmen, die zum Teil gegeneinander aber in erster Linie gegen die starken bolschewistischen Kräfte in Lettland ankämpften. Der Sieg über die Bolschewiki wurde spät errungen und erst am 11.August 1920 kam es in Riga zu einem Friedensabschluss mit Sowjetrussland und der Anerkennung der lettischen Unabhängigkeit.

In der folgenden Friedenszeit entwickelten sich die Republiken rasch. Wirtschafts-und sozialpolitisch einschneidend waren die Agrarreformen, die in allen drei Staaten gleich von Anfang an durchgeführt wurden und in erster Linie die Enteignung des gesamten Großgrundbesitzes bedeuteten. In Estland und Lettland war die überwältigende Mehrheit der enteigneten Gutsbesitzer deutschbaltisch. In Litauen wurde die Höchstgröße für private Güter auf 80 Hektar, später auf 150 ha festgelegt. In Lettland und Estland waren schon zu Ende des 19.Jahrhunderts Industriebetriebe im Bereich Metallverarbeitung und Textil aufgebaut worden, die wirtschaftlich für diese jungen Staaten ins Gewicht fielen. Estland verfügte darüber hinaus über milliardentonnen schwere Brennschiefervorräte und konnte Öle, Benzin und Asphalt produzieren und diese erfolgreich exportieren. Litauen hatte Industriebetriebe in Wilna und Kaunas und seit 1923 in Memel. Durch die polnische Besetzung des Wilnagebietes 1920, die bis 1939 anhielt, war allerdings die Industriekapazität Wilnas für Litauen bis dahin nicht verfügbar.

Der beachtliche Wirtschaftsaufschwung in den baltischen Staaten zeigt sich beeindruckend in der Statistik des Jahres 1938, die aufzeigt, dass in jenem Jahr der Gesamtwert der ausgeführten Güter der baltischen Staaten verglichen mit dem der Sowjetunion 50% (!) des sowjetischen Exports ausmachte.

Trotz des allgemeinen Aufschwunges hatte die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Anfang der 30er Jahre Auswirkungen auf die Baltenländer und die Arbeitslosigkeit stieg an. Dies führte zu parlamentarischen Krisen in diesen Ländern, die in Estland und Lettland zu einer autoritären Demokratie und in Litauen zu einem Präsidialregime führten.

Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland gerieten die baltischen Staaten zunehmend in den Sog der beiden Machtblöcke Deutschland und Sowjetunion. Die Sowjets argwöhnten, dass die baltischen Staaten sich zu sehr an Deutschland orientieren könnten. Eine Rede des Parteisekretärs von Leningrad, A.A.Schdanows auf dem 8.Sowjetkongress in Moskau am 29. November 1936 verdeutlicht das, als er öffentlich vortrug: „…Wenn in einigen an das Leningrader Gebiet angrenzenden Kleinstaaten unter dem Einfluss großer Abenteurer Gefühle der Feindschaft gegenüber der Sowjetunion erregt werden und Vorbereitungen getroffen werden, das eigene Territorium aggressiven Handlungen der faschistischen Staaten zur Verfügung zu stellen, so können im Ergebnis davon nur diese Staaten selbst verlieren.“ Nach Protesten aus Finnland, Estland und Lettland ruderte die Agentur TASS ein wenig zurück und verlautbarte, dass die Rede Schdanows sich nicht gegen die baltischen Staaten richtete, sondern gegen den Faschismus.

Nach der Lösung der sudetendeutschen Frage 1938 war für Litauen klar, dass nun das Memelland, das 1923 zu Litauen kam, in den Fokus der Territorialforderungen Deutschlands geriet. Am 20.März 1939 stellte Deutschland ein Rückgabeultimatum, das von Litauen am 22.März erfüllt wurde.

Etwa 5 Monate später, am 24. August 1939, wurde in Moskau der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, bekannt auch unter der Bezeichnung Hitler-Stalin- oder Molotow-Ribbentrop-Pakt, unterzeichnet, der, in geheimen Zusatzprotokollen, die baltischen Staaten letztlich der sowjetischen Einflusssphäre zuschlug. Estland, Lettland und Litauen wurden von der Sowjetregierung gedrängt Militärbündnisse mit ihr abzuschließen und in ihren Ländern sowjetische Truppen zur Stationierung zuzulassen. Da die Sowjetunion 1939 auch in Polen einmarschiert war und ihre Truppen das Wilnagebiet besetzten, wurde mit dem Abschluss des litauisch-sowjetischen Militärabkommens die Rückgabe der Stadt Wilna und das Umland in der Größe von 6.665 qkm an Litauen „versüßt“.
Durch sowjetischen Druck wurden in den baltischen Staaten sowjetfreundliche Politiker in Regierungsverantwortung gebracht, so in Litauen zum Beispiel als Außenminister Prof. Vincas Kreve-Mickevicius, der im guten Glauben meinte, eine enge Zusammenarbeit mit der Sowjetunion könne zur Erhaltung der Staatlichkeit beitragen. Diese Einstellung wurde enttäuscht, als bei einem Gespräch zwischen ihm und Molotov am 30.Juni 1940 der sowjetische Außenminister erklärte, dass die gegenwärtige internationale Lage die selbstständige Existenz der baltischen Staaten nicht zuließe und es für sie unvermeidbar sei, sich der Familie der sowjetischen Republiken anzuschließen.

So geschah es denn auch: Kommunistische Einheitslisten wurden in den baltischen Staaten aufgestellt und Parlamentswahlen angekündigt. Nichtkommunistische Wahlvorschläge wurden nicht zugelassen.

Die Wahlen fanden am 14. und 15. Juli statt und brachten das gewünschte Ergebnis. Auf der Tagung des Obersten Sowjets in Moskau beantragten am 3., 5. und 6. August 1940 die estnischen, lettischen und litauischen Abordnungen jener Parlamentswahlen die Aufnahme ihrer Republiken in die Sowjetunion.

Viele Staaten lehnten gleich von Anfang an die Anerkennung der Annexion der baltischen Staaten ab. An ihrer Spitze Großbritannien und die USA.

Vom August 1940 bis zum Juni 1941, also nicht einmal ein ganzes Jahr, hielt die erste sowjetische Herrschaft über das Baltikum an. In dieser kurzen Zeit wurden etwa 133.000 Balten als „sowjetunzuverlässige Elemente“ nach Sibirien deportiert. Es gab praktisch keine estnische, lettische oder litauische Familie, die keine Deportierungsopfer zu beklagen hatte. Als im Juni 1941 Deutschland die Sowjetunion angriff und schnell das Gebiet der baltischen Staaten eroberte, wurden sie dort überwiegend als Befreier empfunden. Allerdings waren Versuche baltischer Politiker perspektivisch mit deutscher Duldung eine staatliche Selbstständigkeit anzustreben schon aufgrund der laufenden Kriegshandlungen nicht erfolgreich und wurden von deutscher Seite nicht unterstützt und auch nicht angestrebt.

Der Angriff Deutschlands gegen die Sowjetunion ermöglichte den anglosächsischen deutschen Weltkriegsgegnern England und USA eine militärische Allianz mit Stalin einzugehen, die von ideologischen Gegensätzen nur so strotzte und lediglich getragen war vom Willen Hitlerdeutschlands weitere Machtentfaltung zu stoppen und rückgängig zu machen. Die Zusammenarbeit der kapitalistischen Westmächte mit der weiterhin die kommunistische Weltherrschaft anstrebenden Sowjetunion versetzte die unter Versorgungsmängeln stehenden Sowjets durch materielle anglosächsische Unterstützung in eine komfortablere Kriegslage und der bewusste Preis für diese Allianz war, nach Erreichung des Sieges, die vereinbarte Aufteilung Europas in einen anglosächsisch beherrschten Westen und sowjetisch beherrschten Osten.

1943 entstand in Litauen das Oberste Komitee zur Befreiung Litauens (VLIKAS) durch Vertreter aller ehemaligen litauischen Parlamentsparteien, dass sich am 16.Februar 1944 öffentlich zu einem provisorischen Regierungsorgan erklärte. Ein großer Teil der Mitglieder wurde durch die Gestapo verhaftet aber es gelang einem Teil des Präsidiums im Untergrund weiter zu arbeiten. Bewaffnete nationale Widerstandsgruppen bekämpften aber nicht die Deutschen, sondern die sowjetischen Truppen, die im Juli bereits in Wilna standen. Nach Kriegsende 1945 kämpften etwa 30.000 Partisanen in Litauen gegen die sowjetischer Besatzer, im Laufe der Jahre flaute dieser Widerstand aufgrund von nicht vorhandenem Nachschub an Waffen und Munition naturgemäß ab, aber bis mindestens 1953 wurde noch Widerstand geleistet. Die Basen der Partisanen befanden sich in tiefen, zum Teil für schwere Militärwagen undurchdringlichen Wäldern, die die Sowjets mühsam parzellierten, um die Partisanen zu bekämpfen. Stark war der Widerstand auf dem Lande, wo die zwangsweise Kolchosisierung nicht auf Gegenliebe stieß. Einen bewaffneten Widerstand gab es, wenn auch in quantitativ und zeitlich begrenzterem Maße, ebenfalls in Estland und Lettland.

Eine Beruhigung der Lage in den baltischen Ländern, die sich seit der zweiten Hälfte 1944, bis auf das lettische Kurland, wo sich deutsche Truppen bis zur Kapitulation im Mai 1945 hielten, faktisch wieder in der Sowjetunion befanden, stellte sich so erst Ende der 40er bis Anfang der 50er Jahre ein.

Die Aufbauphase des vom Frontkrieg sehr betroffenen Baltikums setzte ein und ein starker eigener Aufbauwille aber auch der Einsatz deutscher Kriegsgefangener und in der Hauptsache ein erheblicher Material- und Menscheneinsatz aus der übrigen Sowjetunion, die mittlerweile über halb Europa herrschte , brachte die Republiken Stück für Stück nach vorne. Industrieanlagen wurden errichtet und die baltischen Häfen funktionsfähig gemacht. Die Industrialisierung machte Fortschritte und die Balten ergingen sich, im Bewusstsein keine Unterstützung vom Westen zu bekommen, mehr und mehr in pragmatischer Anpassung mit dem sowjetischen System. So wurden Estland, Lettland und Litauen in den 60er bis 80er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zu „Vorzeigerepubliken“, die in den wirtschaftlichen Erfolgsstatistiken weit vorne zu finden waren. Die Industrialisierung, wie auch die Stationierung sowjetischer Truppen und ihrer Angehörigen aus den höheren Chargen, die nach der Pensionierung im Lande blieben, führten zu einer Zunahme von nichtbaltischen Einwohnern, in der Hauptsache Russen. Sie blieben auch aufgrund des höheren Lebensstandards lieber im Baltikum. Jeweils ein Viertel der Bevölkerung Estlands und Lettlands machen auch heute noch russischstämmige Einwohner aus, in Litauen nur etwa 5 Prozent.

Eine Umgestaltung der Sowjetunion, die nach den langen Jahren der Breschnew-Zeit ( 1962-1982) die ein stagnierendes Ausruhen auf dem materiell wie territorial Erreichten des 2.Weltkrieges war und sich zunehmend und zuletzt dramatisch, wirtschaftlich und sozial erschöpfte, war überfällig geworden und wurde durch Andropow eingeleitet und 1985 von Michail Gorbatschow energisch weiterbetrieben.

In der Perestroika etablierten sich in den baltischen Republiken Ende der 80er Jahre mit anfänglicher Moskauer Zustimmung aus Partei und wohl auch aus dem Reformflügel des KGB Bewegungen, die alsbald nationale Forderungen aufstellten, die letztlich in Unabhängigkeitsansprüche übergingen. Schnell zeigte sich, dass die besondere völkerrechtliche Situation, die Nichtanerkennung der Annexion der baltischen Staaten wegen des völkerrechtwidrigen Zusatzabkommens zum Hitler-Stalin-Pakt durch viele westliche Staaten in Europa und auch darüber hinaus, selbst in den jungen Generationen der Balten nicht in Vergessenheit geraten war und nunmehr eine explosive Sprengkraft darstellte, die auch auf andere Gebiete der Sowjetunion, inklusive der Russischen Föderativen Sowjetrepublik, ausstrahlte.

Durch die jahrzehntelang ungelösten nationalen Fragen, die durch polizeistaatliche Maßnahmen gedeckelt wurden und die letztlich gewaltsame Gegnerschaft des konservativen altbolschewistischen Lagers der KPdSU (Augustputsch 1991), wurden die Gorbatschow’schen Reformen zum Scheitern gebracht, weil sich die Reformprozesse nicht mehr steuern ließen. Daran gebrach die UdSSR. Sie hauchte am 2.Weihnachtstag 1991 ihr Leben aus.

Für die baltischen Staaten begann die Wiederherstellung ihrer Souveränität. Litauen erklärte am 11. März 1990 seine Unabhängigkeit und diese wurde noch im selben Jahr von Island anerkannt. Estland folgte mit einer Unabhängigkeitserklärung am 30. März 1990 und Lettland am 4.Mai 1990. De facto erlangten diese Erklärungen ihre Gültigkeit nach dem Moskauer Putsch vom August 1991, als die Russische Föderative Sowjetrepublik unter ihrem Präsidenten Boris Jelzin die Unabhängigkeit der Balten anerkannte und erst danach die meisten westlichen Staaten diesem Schritt folgten.

Es bleibt eine große historische Leistung der Russen den marxistischen Sozialismus, den Sombart gleich nach seiner Einführung „unrussisch, ja antirussisch“ nannte, durch eigene Kraft abgeschüttelt zu haben. Und es ist beschämend, dass dieser Prozess seitens des Westens nie entsprechend seines historischen Ranges gewürdigt wurde.

In ihrer absoluten Mehrheit verspürten die baltischen Völker zu Ende der Sowjetunion keinen Hass gegen die Russen, sehr wohl verstanden sie, dass die Umgestaltung von Russland und von Russen ausging und dass dieser Prozess zum nationalen Nutzen der Balten ausging. Deutlich wird dies beispielsweise 1992 durch die Abwahl des Führers der litauische Nationalbewegung Sajudis, V. Landsbergis, der den ursprünglich pluralistischen und taktisch aufgestellten Sajudis auf eine starke antirussische Seite hinführte. Sein Gegner bei der ersten freien Parlamentswahl Litauens nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit war Algirdas Brazauskas, der schon 1989 die litauische KP aus der KPdSU führte und sie noch während der Sowjetzeit in eine Partei sozialdemokratischen Typs, die LDDP, umwandelte und der gegenüber Moskau erfolgreich eine behutsame „step by step“- Politik vollzog. Mit überwältigender Mehrheit wählte Litauen die Brazauskas-Partei und wählte Landsbergis, der im Februar 1990 mit dem noch pluralistischen Sajudis die letzten Wahlen zum Obersten Sowjets gewann, ab!

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärten sich alsbald die USA zum Sieger über den Kommunismus sowjetischer Prägung, was eine sehr einseitige und selbstüberschätzende Behauptung darstellt aber durch den enormen transatlantischen Einfluss auf die westlichen Medien als neu gestaltetes Narrativ schnell politische Wirkung zeitigte. Eine Wirkung, die auch auf den Osten Europas ausstrahlte und zur Ausweitung transatlantischer geopolitischer Interessen eingesetzt wurde.

Die inneren Schwächen Russlands unter einem alkoholkranken Jelzin, der eine undurchsichtige Privatisierungswelle staatlicher Unternehmen vornehmen ließ, die auch als Geburtsstunde der bekannten großen Oligarchen galt und die schnell zu einem ungeheuren wirtschaftlichen Niedergang führte, wurden für das Baltikum offensichtlich, das wirtschaftlich weiterhin stark von Russland abhängig war. 1998 war Russland wirtschaftlich soweit abgestürzt, dass es zahlungsunfähig wurde. Mittlerweile hatte sich die EU gegründet und die Nato ließ Beitrittsüberlegungen seitens Polen, Ungarns und Tschechiens zu. Diese transatlantischen Werbungen auf Mittel-Ost-Europa verfehlten nicht ihre Wirkung auf die baltischen Staaten, die, angesichts der russischen Schwäche, wirtschafts- und sicherheitspolitisch nicht von den anderen „Transformationsländern“ abgehängt werden wollten.

Der Weg zur Aufnahme der baltischen Staaten in Nato und EU war so vorgezeichnet, ihre Mitgliedschaft in beiden transatlantisch beherrschten Organisationen wurde 2004 vollzogen.

Seitdem hat sich vieles verändert. Russland hat unter Wladimir Wladimirowitsch Putin, der im Jahr 2000 zum ersten Mal zum Präsidenten Russlands gewählt wurde, seine inneren Schwächen überwunden und wehrt sich spätestens seit der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 gegen die Einengung der Sicherheitsinteressen seitens der durch die Osterweiterung der Nato geplanten und dort zu stationierenden US-Raketenabwehr, angeblich gegen eine Bedrohung Europas durch den Iran, die aber natürlich auch Ziele in Russland ansteuern kann.

In den baltischen Staaten sieht die Bevölkerungsmehrheit die Zuspitzungen der Beziehungen zwischen den USA, die die Nato dominiert, und Russland mit Sorge. In der Zustimmung zur Mitgliedschaft in Nato und EU ist eine deutliche Ernüchterung festzustellen. Die Mitgliedschaft in der EU hat nicht zu den „blühenden Landschaften“ geführt, sondern zu schmerzhaften Transformationsanpassungen an EU-Vorgaben und westlichen Kreditgebern, zu hoher Arbeitslosigkeit und erschreckender Abwanderung in den Westen, die bis zu einem Viertel (!) der Gesamtbevölkerung ausmacht. Zur Einführung des Euros trauten sich die politischen Führungen der baltischen Staaten nicht mehr Volksabstimmungen durchzuführen, weil die Umfragen eine Ablehnung erwarten ließen.

Im Gegensatz zu den Verlautbarungen der derzeitigen politischen Führung zum Beispiel in Litauen bezüglich der Ereignisse in der Ukraine, glaubt die Mehrheit der Bevölkerung sicherlich nicht an eine russische Invasionsgefahr, an ein Szenario wie in der Ostukraine. Auch die überwältigende Mehrheit der russischen Minderheit steht loyal zu Litauen. Obwohl die russischen Minderheiten in Estland und Lettland zahlenmäßig größer sind, herrscht auch dort Loyalität zu den Staaten, die sicherlich noch erhöht werden würde, gäben diese Länder den russischen Bürgern dieselben Staatsbürgerechte wie den Einheimischen.